Sündenkreis: Thriller (German Edition)
Sibylle Leitsmann hatte das Blättern im Aktenordner aufgegeben und schaute zu ihrer Kollegin.
»Ach, schon wieder um eine angebliche Kindesgefährdung.«
»Angeblich?«
»Was soll ich sonst von einer anonymen Anruferin halten, die behauptet, dass das Kind in der Nachbarwohnung jeden Abend ganz fürchterlich weinen würde und dass manchmal auch Schreie und Schläge zu hören wären?« Gerda Saibling schob Papiere von links nach rechts und redete weiter. »Sie vermutet, dass der Lebensgefährte der Mutter das Kind schlägt. Ein Mädchen, vier Jahre alt. Und außerdem hätte sie das Kind schon seit Wochen nicht mehr gesehen.«
»Glaubst du ihr?«
»Das kann schon alles so sein, wie die Frau sagt. Könnte aber auch übertriebene Neugierde sein. Normalerweise begegnet man seinen Nachbarn nicht täglich, oder? Und im Winter spielen die Kinder auch nicht draußen.«
»Hat die Frau eine Adresse genannt?«
»Ja, und den Namen der fraglichen Familie.« Gerda Saibling tippte mit dem Zeigefinger. »Mannheimer Straße. Das ist in Grünau-Mitte.«
»Gehört zu unserem Zuständigkeitsbereich.«
»Das mag schon sein. Ich schaff das aber in den nächsten Tagen so oder so nicht.«
»Nimmst du eine Gefährdungsmeldung auf?«
»Ich weiß nicht. Wir reagieren ja eigentlich meist nur, wenn so etwas vom Meldenden schriftlich eingereicht wird. Bei mündlichen Meldungen brauche ich zumindest die Daten desjenigen, der meldet. Aber das muss ich dir ja nicht erzählen. Was soll ich denn bei einem anonymen Anrufer in das Formular eintragen?«
»Stimmt auch wieder.« Sibylle Leitsmann schlug ihren Ordner wieder auf.
»Und in dieser Woche habe ich so viele Termine, dass ich eh dort nicht vorbeischauen kann. Oder willst du vielleicht …?«
Die Kollegin schüttelte energisch den Kopf.
»Na siehst du. Belassen wir es also dabei.« Gerda Saibling nickte zur Bekräftigung. Ihre feisten Bäckchen wippten leicht. Die Leute waren selbst schuld, wenn sie anonym anriefen. Man lebte nicht in der Nazizeit, wo jeder jeden denunzieren konnte, und die DDR mit Stasi und Spitzeln allerorten war auch Vergangenheit. Damals hatte es allerdings weniger Missbrauchsfälle und Kindesmisshandlungen gegeben, davon war Gerda Saibling überzeugt. Auch wenn es keine öffentlich zugängliche Statistik gab. Aber jeder achtete auf jeden. Kinder, die nicht in Krippen und Kindergärten gingen, gab es fast nicht, ärztliche Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen waren Pflicht gewesen. Kaum jemand konnte so dem engmaschigen Kontrollnetz entschlüpfen. Schade, dass es das alles nicht mehr gab. Sie blickte zu ihrer Kollegin hinüber. »Kommst du mit zu Petra Kaffee trinken?«
Sibylle Leitsmann sah zur Uhr und dann auf ihre Akten. »In zehn Minuten bin ich so weit.«
»Dann warte ich so lange.« Gerda Saibling betrachtete die Notiz auf ihrem Schreibtisch und erwog, ob sie nicht doch sicherheitshalber eine offizielle Gefährdungsmeldung ausfüllen sollte. Bei anonymen Anrufen konnte hinterher niemand ankommen und behaupten, das Jugendamt sei von der Vernachlässigung des Kindes informiert gewesen. Andererseits – was, wenn die Anruferin mit ihren Anschuldigungen recht hatte? Man könnte zum Beispiel alle anhängigen Fälle durchsehen und prüfen, ob gegen die Familie schon etwas vorlag. Man könnte herausfinden, ob das Mädchen in eine Kita ging und dort nachfragen. Könnte, könnte, könnte. Jetzt würden sie erst einmal Kaffee trinken. Gerda Saibling war eine vielbeschäftigte Frau. Sie konnte sich nicht um alles kümmern.
*
»… Respondeo dicendum quod acedia, secundum damascenum, est quaedam tristitia aggravans, quae scilicet ita deprimit animum hominis ut nihil ei agere libeat; sicuti ea quae sunt acida etiam frigida sunt .« Der Mann lächelte sanft. Thomas von Aquin war ein weiser Mann gewesen. Torpor , die »stumpfe Gleichgültigkeit«, war eine der Töchter der acedia . Acedia war die Trägheit. »Faulheit«, wie es manchmal übersetzt wurde, traf es nicht richtig. Die Trägheit des Herzens und des Geistes, Feigheit und Ignoranz – das waren die rechten Bezeichnungen.
Vorsichtig klappte er das ledergebundene Buch zu. Summa theologiae war in den Jahren 1265 bis 1273 geschrieben worden, und jedes Wort stimmte noch heute.
Die Namensliste lag vor ihm. In all den Monaten hatte er sie zusammengetragen, hatte jeden Einzelnen von ihnen wieder und wieder geprüft, ihnen die Möglichkeit eingeräumt, sich ohne sein Zutun zu bessern, zu büßen, aber kein Einziger
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