Sündige Rache
hat ihn im Stich gelassen, und jetzt rächt er sich dafür. Aber was wirft er ihm vor?«
»Dass andere von den Mängeln des Systems haben profitieren können, während gleichzeitig er selbst aufgrund von diesen Mängeln irgendwas verloren hat.«
Eve nickte, weil ihr Dr. Miras These als durchaus zutreffend erschien. »Sie wissen, dass wir den Verdacht haben, dass es auf dem hundertachtundzwanzigsten Revier gravierende Probleme gibt. Wir gehen beispielsweise davon aus, dass es von dort eine Verbindung zum organisierten Verbrechen, das heißt zu Max Ricker, gibt.«
»Ja, das steht bereits in Ihrem Bericht.«
»Ich muss Ihnen sagen, Dr. Mira, dass inzwischen feststeht, dass Detective Kohli sauber war und im Rahmen einer Operation der Dienstaufsichtsbehörde zur Aufdeckung möglicher Korruptionsfälle in seiner Abteilung verdeckt ermittelt hat.«
»Verstehe.« Ihre klaren Augen verschleierten sich. »Verstehe.«
»Ich habe keine Ahnung, ob der Killer bereits weiß, dass Kohli sauber war, glaube es aber nicht. Wie wird er Ihrer Meinung nach darauf reagieren, wenn er es erfährt?«
Dr. Mira erhob sich von ihrem Platz. Ihre Ausbildung und ihre Position machten es erforderlich, die Dinge aus der Sicht des Mörders zu betrachten. Während sie dies tat, trat sie vor die breite Fensterfront und blickte in den Garten, in dem ein regelrechtes Meer aus pinkfarbenen Tulpen in der sanften Brise wippte. Die weich geschwungenen Formen der ausgedehnten Rasenfläche, der Büsche und der Bäume sowie die sanften Farben gingen genauso fließend ineinander über wie auf dem Ölgemälde von Monet.
Nichts war tröstlicher, kam es ihr in den Sinn, als ein sorgsam angelegter Garten.
»Anfangs wird er es nicht glauben. Er ist ja kein Killer, sondern dient ausschließlich der Gerechtigkeit. Wenn er es nicht länger leugnen kann, wird er wütend werden. Das wird seine Rettung sein. Wieder einmal hat ihn das System betrogen und dafür gesorgt, dass er einem unschuldigen Menschen das Leben genommen hat. Jemand muss dafür bezahlen. Vielleicht jemand von der Dienstaufsichtsbehörde, wo alles angefangen hat. Vielleicht aber auch Sie, Eve«, meine Dr. Mira und wandte sich ihr wieder zu. »Weil ihm von Ihnen, wenn auch nur indirekt, die Augen für dieses Grauen geöffnet worden sind. Jetzt muss er nicht mehr nur sich selber rächen, sondern zusätzlich Kohli. Kurz nachdem er hören und akzeptieren wird, dass Kohli sauber war, wird er den nächsten Mord begehen. Und er wird weiter morden, Eve, bis man ihn erwischt.«
»Wie kann ich ihn dazu bewegen, dass er mich als Zielperson auswählt?«
Dr. Mira kehrte zurück an ihren Platz, setzte sich wieder und fragte Eve: »Glauben Sie, selbst wenn ich eine Antwort auf diese Frage hätte, würde ich sie Ihnen geben?«
»Es ist besser, seine Zielperson zu kennen, als auf bloße Vermutungen angewiesen zu sein.«
»Ja, ich kann mir denken, dass Sie das so sehen«, erklärte Dr. Mira ihr ruhig. »Vor allem, wenn Sie dafür sorgen können, dass Sie selbst das potentielle nächste Opfer sind. Aber Sie können seine Gedanken nicht manipulieren, Eve. Er folgt einer völlig eigenen Logik. Er hat sich sein nächstes Opfer längst ausgesucht. Wenn er erfährt, dass Kohli sauber war, wird er seine Pläne jedoch möglicherweise ändern. Erst wird er ein wenig trauern, dann aber dafür sorgen wollen, dass es einen gerechten Ausgleich für diesen Irrtum gibt.«
Eve runzelte die Stirn. »Er hat also ein Gewissen.«
»Ja, und Kohli wird sicher darauf lasten. Kohlis Tod wird ihn sehr viel kosten. Aber ich kann nicht voraussehen, wem er die Schuld an dieser Sache geben wird.«
»Warum in aller Welt versucht er nicht, Max Ricker aus dem Verkehr zu ziehen?«
»Vielleicht wird er das ja noch tun, aber erst räumt er in seinen eigenen Reihen auf.«
»Wie schützt man jeden einzelnen Beamten eines ganzen Reviers und findet gleichzeitig heraus, wer von diesen Leuten möglicherweise Dreck am Stecken hat?«, murmelte Eve nachdenklich. »Und wie stellt man es an, wenn man in den Augen genau dieser Beamten ihre Feindin ist?«
»Ist es das, was Ihnen Sorgen macht? Dass Sie in den Augen Ihrer eigenen Leute möglicherweise eine Verräterin sind?«
»Nein.« Sie tat diesen Gedanken mit einem Schulter-zucken ab. »Nein, damit komme ich zurecht.«
»Gut, mehr kann ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt nicht über den Täter sagen. Aber eventuell erzählen Sie mir noch, was Ihnen momentan zu schaffen macht.«
»Mir geht zurzeit
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