Sündige Seide: Roman (German Edition)
auf sein Zimmer nehmen. Mary Catherine bekam Gewissensbisse. Allein mit einem jungen Mann in dessen Zimmer zu gehen, führte zu Schmach und Schande. Als sie aber sah, wie sehr sie Jack mit ihrem Zögern kränkte, willigte sie ein und zahlte für beide.
Sie war entsetzt, in was für einem baufälligen, kakerlakenver – seuchten Haus er lebte. Selbst die Farbigen, die bei ihnen im Garten arbeiteten, wohnten besser. Die Schäbigkeit seines Zimmers führte ihr vor Augen, wie arm Jack war, wie selbstlos er sich seiner Arbeit widmete und wie materialistisch sie erzogen worden war. Aus Scham und Mitleid begann sie zu weinen. Als
sie ihm den Grund für ihre Tränen erklärte, zog er sie in seine Arme.
»Ganz ruhig, Liebes. Du brauchst nicht um mich zu weinen. Jesus war auch arm.«
Daraufhin mußte sie nur noch mehr weinen. Er umarmte sie fester. Und bald schon streichelten seine Hände ihren Rücken und wanderten seine Lippen durch ihr Haar, flüsterten ihr zu, wie sehr er sie brauchte, wie süß sie war, wie großzügig es von ihr war, soviel zu spenden.
Und dann trafen sich ihre Münder. Als er sie küßte, wimmerte sie leise. Sie war schon früher geküßt worden. Aber noch nie hatte sie dabei den Mund offen gehabt und die forschende Zunge eines Mannes gespürt.
Verwirrt und ängstlich entwand sie sich seinen Armen und eilte zur Tür. Er holte sie ein, nahm sie wieder in die Arme und strich ihr mit den Händen übers Haar. »So etwas habe ich noch nie erlebt, Mary Catherine«, sagte er heiser und gepreßt. »Als wir uns geküßt haben, habe ich gespürt, wie der Heilige Geist über uns kam. Du nicht?«
Sie hatte zweifellos etwas in sich gespürt, aber sie wäre nie auf die Idee gekommen, daß das der Heilige Geist war. »Ich muß nach Hause, Jack. Meine Eltern machen sich bestimmt schon Sorgen.«
Sie war unten an der dunklen, steilen Stiege angekommen, als er ihr von oben nachrief: »Mary Catherine, ich glaube, Jesus will, daß wir zusammen sind.«
Während der nächsten Tage füllte sie ihr Tagebuch mit quälenden Fragen, auf die sie keine Antwort wußte. Keinesfalls konnte sie das Problem ihren Eltern schildern. Intuitiv wußte sie, daß die beiden nur einen Blick auf Jack in seinem billigen Anzug zu werfen brauchten, und schon würden sie seine abgestoßenen Manschetten und den speckigen Kragen bemerken und ihn als weißen Abschaum abstempeln.
Wenn sie sich ihren Freundinnen anvertraute, würde sie die beiden in einen Loyalitätskonflikt stürzen. Sie konnte nicht riskieren, daß eine ihren Eltern davon erzählte, die es wiederum
ihren weitererzählen würden. Sie spielte mit dem Gedanken, sich an Tante Laurel zu wenden, die verständnisvoll und gütig war, entschied sich aber dagegen. Auch Tante Laurel würde sich vielleicht verpflichtet fühlen, ihre Eltern über ihre neue Liebe in Kenntnis zu setzen.
Sie war mit einem Erwachsenenproblem konfrontiert, dem ersten ihres Lebens, und sie mußte es wie eine Erwachsene bewältigen. Sie war kein Kind mehr. Jack redete mit ihr wie ein Erwachsener mit dem anderen. Er behandelte sie wie eine richtige Frau.
Und das war das größte Problem. Die Aussicht, wie eine Frau behandelt zu werden, war beängstigend. Von den Nonnen in der Schule hatte sie alles über Sex gelernt: Küssen führte zum Fummeln. Fummeln führte zum Sex. Und Sex war eine Sünde.
Aber, widersprach sie im stillen, Jack hatte gesagt, er hätte den Heiligen Geist gespürt, als sie sich geküßt hatten. Woher wollten die Nonnen, die alles Fleischliche verdammten und deshalb nie etwas Ähnliches empfunden haben konnten, wissen, wie sich das anfühlte? Vielleicht waren das Schwindelgefühl, das Fieber und dieses Ziehen in der Brust beim Küssen gar keine fleischlichen Reaktionen, sondern geistige. Als Jacks Zunge ihre berührt hatte, hatte sie das Gefühl gehabt zu schweben. Vergeistigter ging es schließlich kaum.
Ein paar Tage nach ihrem ersten Kuß erwartete sie ihn in seinem Apartment, als er heimkam. Auf dem schartigen, wackligen Tisch stand das Abendessen. Sie hatte eine Untertasse mit flüssigem Wachs beträufelt und eine Kerze hineingestellt. Zusammen mit einem kleinen Strauß Gänseblümchen in einer Vase trug das Kerzenlicht dazu bei, daß das Zimmer nicht ganz so häßlich wirkte.
Verlegen sagte sie: »Hallo, Jack. Ich wollte dich überraschen.«
»Das hast du.«
»Ich habe Krabbenétouffée und ein . . . Baguette mitgebracht.
Und das hier.« Sie schob einen zusammengefalteten
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