Sündige Seide: Roman (German Edition)
Predigt.
Er fand die Predigt von Anfang bis Ende ebenso lächerlich wie die Menschen im Zelt. Voller Hoffnung lauschten sie dem Prediger, der seiner Gemeinde riet, die Schätze im Himmel und nicht auf Erden zu suchen. Was für ein Quatschkopf, dachte Jack.
Er änderte seine Meinung, als er sah, wie voll der Opferteller war, der ihm gereicht wurde. Er tat, als würde er etwas hineinlegen, und nahm sich einen Zehner. Von diesem Augenblick an betrachtete er den Prediger auf dem Podium mit neuem Respekt.
In jener Regennacht in Arkansas entschied sich Jack Collins, eine neue Laufbahn einzuschlagen. Mit einem Teil der zehn Dollar kaufte er sich eine Bibel und kämpfte sich durch den Text. Er ging öfter zu Feldpredigten. Er hörte aufmerksam zu und lernte. Während der langen Stunden im Güterwagen imitierte er die Gesten und das Gehabe der Prediger. Als er sich gewappnet fühlte, baute er sich in einem Hinterwäldlerort in Alabama an der Straßenecke auf und hielt seine erste Predigt. Als er fertig war, hatte er einen Dollar und siebenunddreißig Cent verdient.
Der Anfang war gemacht.
»Hallo. Wahrscheinlich erinnern Sie sich nicht an mich.« Mary Catherine fing ihn schüchtern an der Ecke des Presbyteres ab. Er hatte gerade seine Predigt beendet und war zielstrebig
wie immer über den Platz gekommen. Inzwischen hatte sie ihn ein paar Tage lang beobachtet, und ihr war aufgefallen, daß er immer ging, als wäre er in Eile.
Er lächelte sie an. »Natürlich erinnere ich mich an dich.«
»Ich habe mich neulich erretten lassen.«
»Und seitdem warst du noch zweimal da. Ohne deine Freundinnen.«
Sie war immer am Rande der Menge stehengeblieben, um nicht aufdringlich zu erscheinen. Er hatte nicht den Eindruck gemacht, als hätte er sie bemerkt. Sie errötete geschmeichelt, weil er es doch getan hatte. »Ich will Sie nicht aufhalten.«
»Du hältst mich nicht auf, Schwester. Was gibt es denn?«
»Sie haben gesagt, der Herr braucht Hilfe, damit sein Werk vollbracht wird.«
»Ja. Und?«
»Deshalb habe ich Ihnen das mitgebracht.« Sie drückte ihm zehn Dollar in die Hand.
Er starrte den Schein einen Augeblick an, ehe er ihr wieder in die Augen sah und voller Inbrunst erklärte: »Gott segne dich, Schwester.«
»Hilft Ihnen das?«
»Mehr, als du glaubst.« Er räusperte sich. »Ich habe Bärenhunger. Wie wär’s mit einem Hamburger?«
Bis dahin war sie immer vorher angerufen worden, wenn sich ein Junge mir ihr verabreden wollte. Sie hatte nie zugestimmt, ohne ihre Eltern gefragt zu haben. Es gehörte sich nicht und war darum um so aufregender, eine Einladung anzunehmen, ohne daß jemand davon wußte, nicht einmal Alice und Lisbet.
»Das klingt wunderbar.«
Lächelnd nahm er sie bei der Hand. »Wenn wir Freunde werden sollen, muß ich deinen Namen wissen.«
Als die Sommerferien begannen, wurde es für Mary Catherine leichter, sich aus dem Haus zu schleichen und sich mit Wild Jack Collins zu treffen, der Tag für Tag an den Straßenecken im
französischen Viertel predigte. Sie gingen zusammen in billige Restaurants, wo Mary Catherine mindestens so oft zahlte wie er. Es machte ihr nichts aus. Er war der faszinierendste Mensch, dem sie jemals begegnet war. Die Menschen fühlten sich von Natur aus zu ihm hingezogen, die schmierigsten Damen der Nacht genauso wie die skrupellosesten Straßengauner.
Jack unterhielt Mary Catherine mit Anekdoten, die sich während seiner siebenjährigen Predigerlaufbahn zugetragen hatten. Während seiner Reisen von Stadt zu Stadt, auf denen er Gottes Wort verbreitete, von seiner Liebe kündete und den Sündern Vergebung versprach, hatte er mehr Abenteuer erlebt, als Mary Catherine sich vorstellen konnte.
»Ich bräuchte jemanden, der singen kann«, erzählte er ihr eines Abends. »Bist du musikalisch, Mary Catherine?«
»Nein, leider nicht«, antwortete sie traurig. Wie wunderbar wäre es, wenn sie Jacksons Werk unterstützen und mit ihm reisen könnte! Seine Predigten hatten nichts mit den förmlichen ritualisierten Messen gemein, die sie bis dahin gekannt hatte. Die Botschaft von der Erlösung Jesu war zwar dieselbe, trotzdem bezweifelte sie, daß ihre Eltern Jacks einfache Manieren oder seinen dogmatischen Fanatismus gebilligt hätten. Deshalb offenbarte sie niemandem außer ihrem Tagebuch, daß sie sich mit ihm traf.
Je heißer der Sommer wurde, desto inniger wurde ihre Beziehung. Eines Nachts schlug Jack vor, sie sollten sich beim Chinesen etwas zu essen holen und es mit
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