Sündiges Abenteuer: Roman (German Edition)
drückte seine weiß behandschuhte Hand auf ihren Mund. Er drückte fest zu und schüttelte warnend und stumm den Kopf.
Sie starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. Diese Gestalt hatte so viel Angst und Hass heraufbeschworen …
Er war über eins achtzig groß und in ein weißes Leichentuch und zerfetzte Kleider gewandet, die bei jedem Schritt flatterten. Eine schäbige weiße Kapuze bedeckte seine Haare und eine blasse Maske die obere Hälfte seines Gesichts. Weißer Puder lag auf seinem breiten Kinn, den vollen Lippen und seinen Wangen, mit Bedacht aufgebrachte Streifen Kohlestaub an anderen Partien des Gesichts erweckten den Anschein, dass es sich um einen nackten Schädel handelte. Im flackernden Licht der Kerze und mit dem heraufziehenden Gewittersturm über ihren Köpfen war er eine beängstigende Erscheinung.
Aber Fürst Sandre hatte in einer Hinsicht recht: Der Schnitter war kein Leichnam, sondern ein Mann aus Fleisch und Blut.
Ihr Verstand füllte in diesem Moment die Lücken ihrer Erinnerung, die ihre Angst gerissen hatte, sie wusste plötzlich wieder ganz genau, was in der Nacht im Wald passiert war.
Der Schnitter hatte ihr das Leben gerettet.
In dieser Nacht im Wald, als sie vor Entsetzen, Hunger und Kälte halb verrückt geworden war, war sie vor einem Wolf davongelaufen und direkt in die Arme des Schnitters. Daraufhin hatte sie sich umgedreht und war in wilder Panik in die andere Richtung gelaufen. Sie war gestürzt, und während sie kaum noch bei Bewusstsein war, hatte er sie vom Boden aufgehoben, hatte sie auf sein Pferd gehoben und war mit ihr zu Lady Fanchere geritten, wo er sie auf der Schwelle liegen ließ wie ein ungewolltes Neugeborenes.
Niemals, nicht ein Mal, hatte er in dieser Nacht gesprochen. Doch er hatte sie in seinen Mantel gehüllt, hatte sie in die Arme genommen und für sie gesorgt, wie es seit dem Tod ihrer Mutter niemand mehr getan hatte. Er war mehr als pflichtbewusst gewesen. Er war freundlich zu ihr gewesen.
Ganz langsam und ungläubig schob sie seine Hand von ihrem Mund weg.
Hinter seiner Maske war die Haut ebenfalls geschwärzt worden, um den Effekt zu erzielen, der Lady de Guignard so sehr geängstigt hatte. Es wirkte tatsächlich, als habe er leere Augenhöhlen. Aber seine Augen blitzten, während er sie mit der Vorsicht eines Mannes betrachtete, der wusste, dass seine Existenz nur noch an einem seidenen Faden hing.
Sie wollte gerade etwas sagen.
Er legte den Finger auf seine Lippen.
Sie bedeutete ihm, dass sie verstand. Dann beobachtete sie, wie er zur Tür schlich und sie leise ins Schloss schob. Er legte das Ohr an die Tür, dann schüttelte er den Kopf. Durch die Maske und den Puder konnte sie Angst und Entschlossenheit sehen.
Auf leisen Sohlen lief er zum Fenster und schaute nach draußen. Sie wusste, was er sah: Bis zum Boden waren es vier Stockwerke, und das Schieferdach war rutschig. Er konnte vielleicht auf diesem Weg entkommen – oder er stürzte in den Tod. Bestimmt kein Versuch, den er wagen wollte, wenn es nicht unbedingt sein musste.
In der Ferne leuchtete ein Blitz auf und kurz darauf rollte Donner.
Vor der Tür hörte sie Männer rufen. Ein Dutzend Stiefel hämmerten auf der Treppe.
Sie schuldete diesem Mann ihr Leben.
Mit leiser Stimme sagte sie: »Die sind hinter dir her.«
Er nickte und machte Anstalten, aus dem Fenster zu steigen.
»Du könntest ausrutschen. Besonders, wenn es anfängt zu regnen.« Erneut rollte Donner. »Und es klingt, als würde das bald passieren. Lass dir von mir helfen. Ich verstecke dich.«
Mehr als Dankbarkeit trieb sie zu diesem Angebot. Heute Nachmittag war sie in der Unterstadt gewesen und hatte die Armut dort gesehen. Sie hatte gehört, wie zufrieden Damacia war, als sie erfuhr, dass der Schnitter Rache übte. Obwohl er absolut befremdlich und beängstigend war, wusste Emma, dass er ein Kreuzritter des Guten war – und er brauchte ihre Hilfe.
Er schaute sich erst im Zimmer um, dann blickte er sie an. Hinter den Löchern in seiner Maske konnte sie das Glitzern seiner schwarz umrandeten Augen sehen. Sie erkannte auch die Skepsis, die jeden seiner Schritte leitete.
»Ich werde dich nicht verraten. Komm her.« Sie hob die Decken an und zeigte auf die Federmatratze, die unter ihrem Gewicht nachgab. »Steig ins Bett. Ich lege mich neben dich und werfe die Decken über dich. Sollte irgendjemand hereinkommen, verspreche ich dir, dich zu retten.«
Türen am Ende des Korridors wurden geöffnet und zugeknallt.
Weitere Kostenlose Bücher