Sueß, naiv und intrigant
dünnes Blatt Skizzenpapier.
»Hab einfach geraten.« Jenny stupste sie kurz mit der Hüfte an, dann ging sie hinüber zu den beklecksten Kalkwänden, in denen von vorausgegangenen Ausstellungen Hunderte Heftzweckenlöcher waren. Sie bemühte sich, nicht nach Easys Fach mit dem schlampigen Namensschild zu schielen, und sie wollte auch nicht darüber nachgrübeln, wen er wohl als Modell gewählt hatte.
Nachdem Jenny und Alison ihre Zeichnungen angepinnt hatten, traten sie zurück, um sie zu bewundern. Alison hatte eine verträumt wirkende Kohlezeichnung von Alan gemacht, der auf der Seite lag und freundlich, wenn auch bekifft, lächelte. »Das ist echt gut.« Jenny neigte prüfend den Kopf. »Er sieht richtig süß aus.«
»Er ist richtig süß«, schwärmte Alison leise. »Dein Bild gefällt mir auch. Julian wirkt so... fröhlich.«
Die Mädchen holten ihre Muffins, dann schlenderten sie durch den Saal und studierten die anderen Arbeiten eingehend. Sie beugten sich nah heran, um Pinselstrich oder Linien zu begutachten, dann traten sie zurück, um das Bild als Ganzes aufzunehmen. Jenny kam sich vor wie eine dieser alten Damen, die zu zweit Museen besuchten und immer etwas über Monet oder Hopper zu sagen wussten. Der Zucker von ihrem Muffin machte sich wohlig in ihrem Blut bemerkbar, und während sie und Alison ihren Mitschülern zu ihren Arbeiten gratulierten, fühlte sich Jenny entspannt und glücklich.
Sie lächelte vor sich hin, als sie daran dachte, wie sie und Julian gestern Abend allein hier gewesen waren und gelacht und geflirtet hatten. Es verlieh dem ganzen Kunstgebäude so eine Spannung – als ob sie etwas von ihm wusste, von dem sonst keiner eine Ahnung hatte. Allein der Gedanke an Julian gab Jenny Auftrieb. Wie hätte sie wohl die vergangene Woche überstanden, wenn er nicht da gewesen wäre und sie abgelenkt hätte? Mit ihm hatte sie abschalten können von Easy, von Callie und von allem anderen, in seiner Gegenwart hatte sie einfach nur daran gedacht, wie nett es war, in Waverly zu sein, Künstlerin zu sein und am Leben zu sein.
»Wow«, sagte Alison gedämpft. »Sie dir das an.«
Jenny musste gar nicht auf die schlampige Signatur sehen, um zu wissen, dass die nächste Arbeit von Easy stammte. Das Bild stand auf einer Staffelei und die Ölfarbe schimmerte noch feucht. Es war schwierig zu sagen, was genau es darstellte. Es war abstrakt und entschieden anders als die anderen Bilder oder Zeichnungen im Raum. Jenny war fast ein bisschen stolz auf Easy. Er besaß wirklich Talent. Das Bild war ein schwer auszumachendes System von Kreisen und dicken Pinselstrichen, von Rosa- und Pfirsichtönen und blassgrünen Tupfern, und doch fügten sich die einzelnen Elemente zu einem Ganzen zusammen, sodass man das Gefühl hatte, ein Porträt von jemandem oder von etwas vor sich zu haben.
»Er ist irrsinnig begabt«, stimmte Jenny zu. In dem Moment fiel ihr Blick auf eine vertraute Form am rechten Rand des Bildes, und wie eine der passionierten alten Damen im Museum kniff sie die Augen zusammen und trat näher. Es war ein erdbeerfarbenes Element, und es erinnerte Jenny an etwas Bestimmtes, aber je mehr sie es zu fassen versuchte, desto mehr entglitt es ihr. Sie versuchte, es aus dem Kopf zu schütteln. Vielleicht erinnerte dieses kleine Bilddetail sie ja auch nur an eine Erdbeere.
»Jenny? Komm doch mal kurz herüber.« Beim Klang von Mrs Silvers Stimme wandte sie sich um und sah, dass die Lehrerin vor ihrem Bild von Julian stand. Sei eilte hinüber und Mrs Silver legte ihr die dickliche Hand auf die Schulter. »Ich wollte dir gratulieren, Schätzchen. Die Pose, die du für dein Modell gewählt hast, unterstreicht deutlich, wie extrem hochgewachsen der junge Mann ist, und der dargestellte Augenblick hat etwas so Flüchtiges und Diffiziles wie Gelächter. Das hast du ganz außergewöhnlich gut hingekriegt.«
»Wirklich?« Jennys Wangen wurden rot vor Stolz. Sie war hin und weg, dass Mrs Silver ihr Werk lobte. Denn obwohl ihre Kunstlehrerin einen immer ermutigte, war sie doch niemals unaufrichtig in ihrer Beurteilung. Sie sagte nur, was sie auch wirklich meinte.
»Oh ja, Liebes.« Mrs Silver drückte ihr sacht die Schulter. »Und diese Zeichnung fängt auch wahrlich ein, dass dich etwas mit deinem Modell verbindet.« Sie langte sich geistesabwesend in das zerzauste graue Haar, auf der Suche nach einem Bleistift hinter dem Ohr, der dort aber nicht steckte. Dann sah sie Jenny aus ihren graublauen Augen an. »Es
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