Suess und ehrenvoll
wirklichen Anfang. Diesmal würden sie ohne Rücksicht auf die Bedenken der Familie gleich am Tage seiner Rückkehr ein gemeinsames Leben beginnen. Konnte es ein größeres Glück geben?
Ludwig malte sich sein künftiges Glück in glühenden Farben aus. Doch der Weg zurück nach Frankfurt war noch weit und übersät mit Hindernissen und Gefahren! Das Schlimmste war, dass er schon seit Wochen keinen Brief mehr von Karoline bekommen hatte. Die Feldpost wurde nicht mehr zugestellt. In seiner Tasche steckte ein Stoß von Briefen an Karoline, die auf Abholung warteten. Es half nichts, Ludwig gab den Versuch auf, sich optimistische Gedanken vorzugaukeln, und versank in eine trübe Stimmung. »Wenn doch der Morgen schon anbräche! Dann könnten wir aufbrechen«, murmelte er vor sich hin. Beim Rückzug wusste er wenigstens, dass jeder Schritt ihn der Heimat näher brachte.
Bald darauf versuchten die ersten Sonnenstrahlen vergeblich, den Morgennebel zu durchdringen. ›Das war’s‹, dachte Ludwig, ›die Wache ist zu Ende. Bald geht es los, und dann werden wir wieder den ganzen Tag nicht trinken und nicht rasten dürfen.‹ Da hörte er ein Geräusch. Waren das Schritte? Bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, erahnte er durch den Nebelschleier hindurch eine Bewegung. Er beschloss, sich vorsichtig zu nähern. Waren das nicht Menschen? Viele Menschen? Ein Teil der Gestalten, die er verschwommen wahrnahm, lagen auf der Erde. Offenbar handelte es sich um eine große Einheit, größer als seine Kompanie. Das Herz schlug ihm bis zum Halse. Wie von der Tarantel gestochen, sprang er zurück.
Er lief zum diensthabenden Offizier, der aus dem Schlaf fuhr und mit ihm zum Kompanieführer ging, um ihn zu wecken. Zu dritt schlichen sie zu der Stelle, wo Ludwig die fremde Einheit erspäht hatte. ›Wer ist das dort unten?‹, dachte Ludwig, angespannt. ›Sind das die Unseren? Vielleicht unsere Artillerieeinheit? Und wenn nicht? Soviel ich weiß, haben wir keine anderen Truppen in dieser Gegend. Man hat uns ja eigens zurückgelassen, um das Vorrücken des Feindes aufzuhalten.‹ Ludwig spähte durch die Nebelschwaden, in der vergeblichen Hoffnung, die Umrisse deutscher Geschütze zu erkennen.
Der Hauptmann beobachtete das Tal nicht länger als eine Minute, bevor er den Befehl gab, die Kompanie sofort zu wecken. Er ordnete absolute Stille an und führte seine Leute im Eilmarsch auf die andere Seite des Hügels. Ludwig begriff bald, dass Schumacher einen Beobachtungspunkt suchte, wo er die aufgehende Sonne im Rücken hatte. Nachdem er den Abteilungsführern Befehle erteilt hatte, gaben diese sie im Flüsterton an die Soldaten weiter. Schumacher war zu dem Schluss gekommen, dass es sich um eine feindliche Einheit in Bataillonsstärke handelte, und befahl, die Kompanie möglichst weit auseinanderzuziehen. Die Soldaten verteilten sich in langen Reihen über das Gelände und legten sich in Erwartung des Feuerbefehls bäuchlings auf die Erde.
Als der Nebel wich, konnte man die Soldaten im Tal erkennen. Es waren Amerikaner. Ludwig hatte noch nie amerikanische Truppen zu Gesicht bekommen. ›Was machen wir jetzt?‹, dachte er. ›Zahlenmäßig sind sie uns ungefähr vierfach überlegen. Wenn wir angreifen, muss es ein Überraschungsangriff sein.‹ Doch es kam kein Feuerbefehl. Das Feuer durfte erst eröffnet werden, wenn der Kompanieführer persönlich den Befehl gab.
Nach und nach standen die Amerikaner auf. Ludwig warf hin und wieder irritierte Blicke auf seinen Abteilungsführer und den Kompaniechef, doch der rührte sich nicht. Die Amerikaner fingen an, das Frühstück vorzubereiten. Sie hatten offenbar genug Wasser und Lebensmittel. ›Ein kluger Kerl, unser Hauptmann‹, dachte Ludwig. ›Er wartet mit dem Angriff, bis die Amerikaner mit Essen beschäftigt sind.‹
Das Frühstück zog sich hin, doch nichts geschah. ›Spinnt er, dieser Schumacher?‹, fragte sich Ludwig. ›Was ist mit ihm los? Wir verpassen eine einmalige Gelegenheit. Will er noch warten, bis die Amerikaner gefechtsbereit sind, und dann auf sie losgehen, vier gegen einen? Wie Don Quichotte im Kampf gegen die Windmühlen?‹ Doch er hatte keine andere Wahl, als schweigend zu warten, obwohl ihm der Bauch vom langen Liegen wehtat.
Die Amerikaner hatten ihr Frühstück beendet und verstreuten sich über das Gelände, um ihr Geschäft zu verrichten. Auf diesen Augenblick hatte Schumacher gewartet. Er gab den Befehl, pausenlos aus allen Waffen zu feuern.
Die
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