Suess und ehrenvoll
Amerikaner hatten keine Deckung. Sie sahen den Feind nicht, der vom Hügel aus auf sie schoss. Ihr Nachrichtendienst hatte gemeldet, dass die ganze Gegend bereits von deutschen Truppen gesäubert sei. Als sie mit heruntergelassenen Hosen dahockten, konnten sie nicht schnell genug an ihre Waffen gelangen. Diese entscheidenden Sekunden genügten, um den Feind niederzumähen.
Schumacher sprang auf und rief: »Los, Männer! Lasst keinen leben! Erledigt alles, was sich bewegt! Wir können keine Gefangenen und Verwundeten mitnehmen!« Die Soldaten stürmten ins Tal. Es gab weder Gewissensbisse noch Zweifel. Sie mussten zwei Ziele erreichen: verhindern, dass es Überlebende gab, die Verstärkung herbeiholen konnten, und schleunigst mit der Beute an Wasser und Proviant verschwinden. Die Waffen der Gefallenen mitzunehmen, erwies sich als unmöglich, weil die Kompanie nicht motorisiert war und die Soldaten ohnehin schwer zu schleppen hatten.
Ludwig empfand keine Genugtuung nach dem Coup des Kompaniechefs. ›Wir haben ein ganzes Bataillon vernichtet und selber keinen Kratzer abbekommen‹, dachte er. ›Warum versetzt mich unser Sieg nicht in Hochstimmung? Warum kann ich mich nicht freuen?‹
Nach zweistündigem Eilmarsch beschloss Hauptmann Schumacher, eine Rast einzulegen, da er nicht mehr befürchtete, dass amerikanische Verstärkungs- oder Rettungstruppen ihnen auf den Fersen waren. Die Soldaten öffneten die Säcke, in die sie in aller Eile Brot, Fleisch, Konservenbüchsen und volle Feldflaschen geworfen hatten. Die Augen gingen ihnen über. So etwas hatten sie seit vier Jahren nicht mehr gesehen. »Schaut euch das an«, rief ein Soldat, »für die Amerikaner ist es erst 1914!« Ludwig leerte eine Feldflasche nach der anderen. ›Wie viel Wasser kann der Mensch trinken?‹, dachte er. ›Wo geht das alles hin?‹
Doch auch nachdem sie ihren Hunger und Durst gestillt und gerastet hatten, fand Ludwig keine Ruhe. Hatte er nicht als Junge und auch noch als Gymnasiast und Student von ritterlichen, ruhmreichen Kämpfen geträumt? Wie albern! Warum kam ihm das plötzlich wieder in den Sinn? Seit Jahren hatte er nicht mehr an diese naiven Vorstellungen gedacht. Warum gerade jetzt? Nach vier Jahren Krieg – nein, es war kein Krieg, sondern ein Massaker. Ein bestialisches, grausames Abschlachtenohne Ruhm und Ritterlichkeit. Was hatte die Realität mit seinen Kindheitsträumen zu tun? Ludwig wurde das Gefühl nicht los, dass etwas geschehen war, was nicht hätte geschehen dürfen. So lächerlich ihm seine kindlichen Illusionen schienen, so grausam und unmenschlich der Krieg sein mochte, der Überfall, bei dem die Amerikaner wie Lämmer abgeschlachtet worden waren, durchbrach eine Grenze. Ja, natürlich hatten sie keine andere Wahl gehabt. Hoch lebe unser schlauer Kompaniechef! Und doch … Er konnte sich selbst nicht erklären, was in ihm vorging. Was Karoline wohl dazu sagen würde?
Hauptmann Schumacher war zwar ein gewiefter Frontsoldat, der jeden taktischen Vorteil zu nutzen verstand, aber strategische Weitsicht besaß er nicht. Zudem hatte er wie so viele Offiziere während des Rückzugs den Kontakt zu seinem Vorgesetzten verloren. Vor diesem Hintergrund rief er Ludwig wenige Tage später zu sich und trug ihm auf, mit einem beschlagnahmten Fahrrad nach Le Cateau zum Stab des List-Regiments zu fahren. Dort sollte er den Regimentsadjutanten, Leutnant Hugo Gutmann, aufsuchen.
»Gutmann ist ein guter Freund von mir und einer der besten Frontoffiziere, die ich je kennengelernt habe«, sagte Schumacher. »Wir haben oft Seite an Seite gekämpft, ihm wurden das Eiserne Kreuz Erster Klasse und zahllose weitere Orden verliehen. Wenn Sie sich in meinem Auftrag an ihn wenden, wird er Sie sofort empfangen.« Er erklärte Ludwig genau, welche Fragen er übermitteln sollte.
»Sie werden den Besuch bei Gutmann nicht bereuen«, fügte Schumacher hinzu und klopfte Ludwig auf die Schulter, »er wird Sie bevorzugt behandeln.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ach, nichts Besonderes«, winkte Schumacher ab, »mir fiel gerade ein, dass Gutmann Jude ist. Sie sind doch auch Jude, nicht wahr, Kronheim?«
Ludwig musste sich zusammenreißen. Immer wieder dasselbe Vorurteil: Alle Juden halten zusammen. Natürlich auf Kosten anderer. Doch er nahm die Stichelei schweigend hin und machte sich auf den Weg.
Leutnant Gutmann empfing Ludwig tatsächlich überaus herzlich, obwohl er nicht wissen konnte, dass er Jude war. Er saß in einem halb zerstörten
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