Suess und ehrenvoll
und zeigte auf eines der Betten. Ludwig eilte in die angegebene Richtung, warf einen Blick auf den Verwundeten und erstarrte vor Schreck.
Der junge Mann lag mit offenen Augen da und sah aus, als schwebte er in anderen Welten. Er schien Ludwig gar nicht wahrzunehmen. Augen und Lippen waren eingefallen, die Zähne stachen kalkweiß aus dem aufgerissenen Mund heraus. Er war zum Skelett abgemagert, die Stirn lag in Falten, seine Wangenknochen traten hervor, und unter der Decke ragten dünne Storchenbeine hervor.
»Johann«, sagte er schließlich, »ich bin es, Ludwig. Sag doch etwas.« Johann senkte den Blick und gab keinen Laut von sich.
Mit wachsender Verzweiflung wandte sich Ludwig an einen neben ihm stehenden Sanitäter. »Bitte«, sagte er mit flehender Stimme, »glauben Sie, dass er mich erkennt?«
»Wahrscheinlich nicht. Er wurde mit einer Senfgasvergiftung eingeliefert. Seine Lungen sind verbrannt.«
Ludwig war wie vor den Kopf geschlagen. »Und warum stehen Sie hier?«
»Ich brauche das Bett«, antwortete der Sanitäter trocken. »Wir haben hier schon zu viele frisch Verwundete, die auf dem Boden liegen.«
In den folgenden Wochen, als der deutsche Rückzug begonnen hatte, litten Ludwig und seine Kameraden unsäglich. Die äußeren Bedingungen wurden immer härter: Hunger, Durst, Kälte – Entbehrungen, die sie schon kannten und die kein Außenstehender nachempfinden konnte. Doch was das Schlimmste war: Diesmal fehlte ihnen die seelische Bereitschaft, das Leiden zu ertragen. Wenn man nicht mehr an den Krieg glaubt, wenn die Hoffnung auf den Sieg schwindet, warum soll man dann leiden? Nur um weiter durchzuhalten? Zu Ludwigs Entsetzen griff ein Phänomen um sich, das er für undenkbar gehalten hätte: Immer mehr Soldaten desertierten, und es kam zu Erschießungen.
Desertion war in Ludwigs Augen das schlimmste Verbrechen: Verrat. ›Geschieht ihnen recht, diesen Verrätern, dass sie exekutiert werden‹, dachte er voller Empörung. Das Nachlassen der Disziplin machte ihm schwer zu schaffen. Er erlebte immer häufiger, dass Soldaten sich ihren Offizieren gegenüber unverschämt benahmen und Befehle missachteten. In seinen Augen gefährdete dieser Mangel an Disziplin die Existenz des Vaterlands. ›Ohne Disziplin ist Deutschland verloren! Es muss absolute Disziplin herrschen‹, sagte er sich immer wieder.
Eines Abends saß er mit einem Feldwebel namens Zwolle zusammen und sprach ihn darauf an.
»Wo soll die Disziplin herkommen?«, sagte der Mann achselzuckend. »Sieh dir doch die Offiziere an, die man uns schickt. Die traditionelle Führungsschicht ist im Krieg aufgerieben worden. Also ernennt man wahllos Leute, von denen viele nicht dasZeug zum Offizier haben. Und wenn du dich jetzt fragst, warum du noch kein Offizier bist, Ludwig, wo du doch gebildet bist, ein ausgezeichneter Soldat und mittlerweile über reichlich Kampferfahrung verfügst, dann sag mir nicht, das läge daran, dass du Jude bist. Der Grund ist, dass du keine Ellbogen hast. Guck dir Fritz Schwarzenberg an, unseren Leutnant .« Er sprach dieses Wort mit deutlicher Verachtung aus. »Wir haben zusammen als Rekruten gedient und wurden gleichzeitig zum Feldwebel ernannt. Aber im Gegensatz zu mir hat er Druck gemacht, bis er zum Leutnant befördert wurde. Jetzt spielt er sich als großer Herr auf und behandelt mich wie einen Leibeigenen. Und da erwartest du von mir, dass ich ihn respektiere? Warum denn? Weil man ihm ein bisschen Stoff an die Schultern geheftet hat?«
Und als hätte er gespürt, dass über ihn gesprochen wurde, trat kurz darauf Schwarzenberg auf sie zu. »Ah, Zwolle, gut, dass ich dich sehe. Ich habe dir einiges zu sagen.«
»Warum nennst du mich Zwolle?«, unterbrach ihn der Feldwebel. »Seit unserer Rekrutenzeit hast du mich immer beim Vornamen genannt.«
Der Leutnant sah ihn mit geringschätzigem Lächeln an und wies auf sein Rangabzeichen. »Das geht nicht mehr, Zwolle. Ich bin jetzt dein Vorgesetzter.«
»Komm her, Fritz«, sagte der Feldwebel, »setz dich zu uns, und ich erzähle dir eine Geschichte, die dir im Leben nützen wird.«
Der Leutnant setzte sich, und Zwolle fing an zu erzählen. »Es war einmal ein wunderschöner, bestens gepflegter Schäferhund. Allerdings hatte dieses Luxusgeschöpf keinen Erfolg bei den Hundedamen, was ihn sehr betrübte. Eines Tages sah er einen struppigen, hinkenden alten Wolf, dem alle Hündinnen nachliefen. Er ging zu ihm und sagte: ›Schau dir an, wie du aussiehst, und schau mich
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