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Suess und ehrenvoll

Suess und ehrenvoll

Titel: Suess und ehrenvoll Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Avi Primor
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Manchmal wird mir bewusst, dass ich Dich mehr liebe als mich selbst. Jetzt, in diesem Augenblick, habe ich wieder dieses Gefühl. Ich bin zu aufgewühlt, um an körperliche Liebe zu denken. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, Dich zu berühren. Meine Liebe zu Dir ist ganz rein. Von allem losgelöst. Ja, ich liebe Dich mehr als mich selbst.

    Dein Ludwig
    Als er den Umschlag in der Poststelle aufgab, fragte er sich plötzlich, ob er wohl unbewusst einen Abschiedsbrief verfasst hatte … Rasch schob er diesen Gedanken beiseite.

9
    B ELGIEN
— Herbst 1914 —
    Im Morgengrauen rückte das Regiment nach Belgien aus. Bis Lüttich wurden sie mit dem Zug transportiert. Sie teilten sich die Waggons mit den Pferden und mussten die Tiere beruhigen. Die Pferde waren wie die Reiter aus dem Zivilleben herausgerissen worden und hatten keine Erfahrung mit solchen Transporten. Zum Teil waren es nicht einmal Reitpferde, sondern Zugpferde oder Ackergäule. Sie waren noch nie mit der Eisenbahn gefahren und hatten sich bereits gegen die Verladung massiv gewehrt. Jedes einzelne musste über die Rampe in den Waggon gezerrt werden. Ein Soldat zog im Wagen stehend am Zügel, während zwei weitere Soldaten sich den Tieren vorsichtig von hinten näherten und ihnen ein straff gespanntes Seil um das Kniegelenk legten. Das Pferd, überrascht von dem Kontakt mit dem Seil, sprang nach vorn und geradewegs in den Waggon hinein. Der Soldat, der den Zügel hielt, musste darauf achten, nicht zu Boden gestoßen zu werden.
    Am Ende zweier langsamer, mühseliger Tagesreisen durften sie endlich aussteigen, um in einem provisorischen Zeltlager zu übernachten. Am nächsten Morgen hieß es Aufsitzen, und der lange Ritt begann.
    Das Ziel der Reise war die belgische Front. Ein großer Teil Belgiens war bereits in deutscher Hand. Trotzdem war es dem belgischen König Albert I. gelungen, Teile seiner geschlagenen Armee zusammenzuziehen und eine Verteidigungslinie an der Yser einzurichten. Nördlich der Yser-Front gruben sich Einheiten der britischen Expeditionstruppe ein und südlich davon die französische Armee.
    Zu Ludwigs Freude ritt er dasselbe Pferd, mit dem er schon einige Tage geübt hatte. Der hochbeinige, kräftige, silbergraue Wallach, der bisher als Zugpferd gedient hatte und die schwere Ausrüstung gut tragen konnte, war kaum eingeritten und ziemlich unruhig. Ludwig hatte ihm den Namen Goliath gegeben. Er nutzte jede freie Minute, um sich um sein Tier zu kümmern. Er streichelte es unter gutem Zureden und steckte ihm Zuckerstücke, trockenes Brot oder Karotten zu, die er sich von seinen Rationen absparte.
    Nach ihrer Ankunft wurden sie noch im Sattel über das weitere Vorgehen informiert. Die Ulanen sollten mit ihren langen, stählernen Lanzen eine Bresche in die feindliche Front schlagen, die sich inzwischen wieder formiert hatte.
    »Wir müssen die belgischen Linien in der Mitte aufbrechen, damit unsere Infanterie hindurchstürmen kann!«, rief der Kompanieführer. »Die feindliche Division hat sich in Sichtweite eingegraben. Sie wird kommandiert von General Bernheim. Viele von euch werden ihn schon von den Kämpfen um Antwerpen kennen.«
    Ludwig hörte, wie sein Feldwebel, ein kampferprobter ostpreußischer Soldat, lauthals höhnte: »Bernheim? Der ist doch Jude! Ein jüdischer General? Was kann man von dem schon erwarten? Wir spießen die Belgier auf, ehe sie wissen, wie ihnen geschieht!« Ludwig fühlte einen Stich im Herzen, ließ sich aber nicht lange ablenken. Die kalte, klamme Nacht verbrachten sie unter freiem Himmel. Die meisten konnten nicht einschlafen, denn ihnen war bewusst, dass sie im Morgengrauen angreifen würden. Und tatsächlich wurde in aller Frühe der Befehl zum Aufsitzen gegeben.
    Oberst August von Eichhorn, der Regimentskommandeur, stand vor Tausenden von berittenen Soldaten, zog seinen Säbel und rief mit lauter Stimme: »Jetzt werden wir unseren Feinden zeigen, was es bedeutet, Seine Majestät den Kaiser und Deutschland herauszufordern!« Damit wendete er sein Pferd, deutetemit dem gezückten Säbel auf die belgischen Stellungen und gab das Zeichen zum Angriff.
    Bis zu diesem Augenblick hatte Ludwig Beklommenheit verspürt. Angst vor dem Unbekannten. Seine Schläfen klopften. Doch als das Zeichen zum Angriff kam, als er mit Schenkeldruck, vorgeschobener Hüfte und erhobener Lanze angaloppierte, war dieses Gefühl wie weggeblasen. Was ihn nun erfüllte, war Freude. Abenteuerlust. Ja, seine Brust dehnte sich vor

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