Suess und ehrenvoll
von Hauptmann Schorndorff tatsächlich erhalten hatte. Wer tapfer kämpfte, war ein anständiger Kerl. Feiglinge oder Drückeberger wurden verachtet und verspottet.
Was sie in der Heimat vorfinden würden, wussten die Männer nicht. Allerdings wurde rasch klar, dass die Arbeitersöhne aus dem Frankfurter Ostend keinen Luxus zu Hause erwarten konnten. Der ohnehin schon kärgliche Lebensunterhalt wardurch die Einberufung der jungen Männer noch mehr eingeschränkt worden. Die britische Blockade der deutschen Häfen, die fehlenden Importe aus Polen und Russland und nicht zuletzt die Ernteausfälle durch die Einberufung der Bauern hatten zu ernsten Versorgungsengpässen geführt. Sogar Brot und Kartoffeln waren jetzt knapp und neuerdings nur noch auf Lebensmittelmarken erhältlich. Außerdem wurde täglich befürchtet, dass die Frauen für die Rüstungsindustrie zwangsrekrutiert würden.
»Meine Mutter haben sie auch geholt«, sagte einer der jungen Männer. »Dabei sind meine drei Schwestern erst fünf, sechs und acht. Den Freistellungsantrag haben sie abgelehnt, weil sie meinen Stiefvater nicht einziehen können. Der ist schon zu alt, und außerdem hat er Tuberkulose. Früher hat er Kohlen geliefert und ganz gut verdient, aber jetzt gibt es immer weniger Kohlen, und die Firma braucht ihn nur noch gelegentlich. Ich hab keine Ahnung, wovon die jetzt leben. Ich glaube, die haben bald überhaupt nichts mehr zu fressen.«
Ludwig verstummte bei solchen Gesprächen. Von Lebensmittelknappheit und Hunger hatten ihm seine Eltern und auch Karoline bisher noch kein Wort geschrieben.
»Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt hingehen soll«, sagte der junge Gefreite schließlich. »Die wollen wahrscheinlich bloß meinen Sold. Und mein Bett hat meine Mutter an einen Bäckergesellen vermietet, der gelegentlich etwas Brot mitbringt.«
Nach kurzem Zögern bot Ludwig ihm an, den Urlaub in seinem Elternhaus zu verbringen. Er wusste, dass seinem Vater das nicht gefallen würde, hoffte aber auf die Unterstützung seiner Mutter.
»Das kann ich ja gar nicht annehmen«, sagte der junge Mann. »Meinst du das ernst?«
»Aber sicher«, erklärte Ludwig, obwohl er sich keineswegs sicher war.
»Na, dann«, sagte der junge Mann und streckte die Hand aus. »Adalbert Fleischhauer. Eigentlich bin ich Schlosser.«
»Angenehm«, sagte Ludwig. »Ich bin Ludwig Kronheim.« Dass er Jurist war, verschwieg er. Dann versuchte er noch ein letztes Rückzugsgefecht. »Wie wirst du das deiner Familie erklären?«
Adalbert grinste. »Ich sage einfach, dass ich in einem Soldatenheim wohne.«
Wie befürchtet, erwartete niemand die Soldaten am Bahnhof in Frankfurt. Bevor sich ihre Wege trennten, mussten sie erst noch zur Meldestelle marschieren, um sich dort registrieren zu lassen. Die Meldestelle war in der Festhalle untergebracht, dem größten Kuppelbau Europas, den der Kaiser persönlich vor sechs Jahren eröffnet hatte. Gleich nach Kriegsbeginn hatte die Militärverwaltung das imposante Gebäude beschlagnahmt.
Zu ihrer Überraschung wurden die Soldaten auf der Straße von einer Schar munterer Jungen umringt, die ihre Uniformen bewunderten, im Gleichschritt neben ihnen hermarschierten und aus voller Kehle sangen: »Wenn die Soldaten durch die Stadt marschieren…«
»Nicht zu glauben«, sagte Ludwig. »Die begeistern sich immer noch für den Krieg. Sie freuen sich auf die Armee, als sei der Krieg das reinste Vergnügen.«
»Die werden’s schnell genug merken, was ihnen blüht«, knurrte Adalbert. »Wahrscheinlich müssen sie alle noch ran. Oder glaubst du immer noch, dass wir Weihnachten wieder zu Hause sind?«
Dazu mochte sich Ludwig nicht äußern. »Wir waren doch früher genauso«, sagte er. »Hat man uns damals erklärt, dass Kriege etwas ganz anderes sind als eine Parade mit bunten Uniformen und Marschmusik? Wir haben uns nicht nur auf die Uniform gefreut, sondern auch auf den Krieg selbst. Ja, auch auf das Gemetzel! Und so wird es immer sein. Nach dem Krieg werden wir von den Gräueln erzählen und von unseren Freunden, die massenweise gefallen sind. Es werden überall Invaliden herumlaufen. Schon jetzt trifft man sie auf der Straße. Doch all das wird nichts ändern. Man wird uns zuhören, vielleicht unwillig oder auch erschüttert, aber die nächste Generation wird sich wieder in einen heroischen Krieg stürzen.«
Kaum hatte Ludwig das ausgesprochen, stimmte er unwillkürlich in das Lied der Buben ein: »…öffnen die Mädchen die
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