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Suess und ehrenvoll

Suess und ehrenvoll

Titel: Suess und ehrenvoll Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Avi Primor
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sich. ›Wovor fürchte ich mich?‹ Aber es gelang ihm nicht, seine Unsicherheit zu verscheuchen. Er wusste ja auch nicht, wie es um Karoline stand. Hatte sie sich auf eine Weise entwickelt, von der er nichts wusste, an der er keinen Anteil hatte? Wenn sie ihn nun ganz anders ansah als früher? Aus den Augen, aus dem Sinn. Vielleicht war er ja gar nicht mehr der junge Mann, dem sie fast ein Jahr lang glühende Liebesbriefe geschrieben hatte?
    Er konnte nicht ahnen, dass auch Karoline mit ähnlich widerstreitenden Gefühlen kämpfte, seit sie am Telefon seine Stimme gehört hatte. Zwar war ihr Ludwig immer gegenwärtig geblieben, was vor allem an seinen langen Briefen lag. Jedes Mal wenn ein Brief von ihm kam, schlug ihr das Herz bis zum Hals und sie konnte es kaum erwarten, den Umschlag aufzureißen. Alles sprach dafür, dass er trotz der dramatischen Wende, die sein Leben genommen hatte, immer noch ihr geliebter Ludwig war.Und trotzdem mussten die Erfahrungen an der Front eine Veränderung bei ihm bewirkt haben. Er konnte nicht mehr derselbe sein. ›Ach, wenn er doch schon da wäre‹, dachte sie ungeduldig.
    Sie ging zur Wohnungstür, stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte durch den Türspion, damit sie ihn sehen konnte, bevor er klingelte. Sie wusste zwar, dass er nicht so schnell aus der Königsteiner Straße zu ihr kommen konnte, blieb aber trotzdem in dieser anstrengenden Haltung stehen, bis sie nicht mehr konnte. Dann trat sie auf den Treppenabsatz, öffnete das Fenster und spähte von dort auf die Straße hinunter.
    Ein leichter Nebel verschleierte die Sicht. Vereinzelte Regentropfen blieben in Karolines Haar hängen, doch sie achtete nicht darauf. Dann sah sie einen Radfahrer kommen. Ein Lastwagen, der ihn überholte, versperrte den Blick. Doch dann sah sie ihn. Er war es!
    Als Ludwig vom Fahrrad stieg, konnte sie endlich trotz der tief in die Stirn gezogenen Mütze sein Gesicht sehen. Sie stürmte die Treppe hinunter, riss die Tür auf und – brach in ein etwas übertriebenes Gelächter aus.
    »Ludwig«, rief sie, »was hast du denn da im Gesicht? Hast du dich mit Kohle beschmiert?«
    Ludwig blieb überrascht stehen. Dann begriff er und fiel in ihr Lachen ein. »Ah, du meinst den Schnurrbart! Ich bin schon so daran gewöhnt, dass ich ihn ganz vergessen habe.«
    »Und was für ein riesiger Schnauzbart«, sagte Karoline, »wie Friedrich Nietzsche! Nur dass er zu deinem Babygesicht gar nicht passt!«
    Ludwig verschwieg ihr wohlweislich, dass er sich den Schnurrbart nur aus einem Grund hatte stehen lassen: um sein Kindergesicht zu kaschieren.
    Sie lief ihm immer noch lachend entgegen und umarmte ihn ungestüm. Lächelnd und eng umschlungen gingen sie die Treppe hinauf. Die Beklemmung, die sie noch vor wenigen Minuten empfunden hatten, war wie weggeblasen.
    »Nun, erzähle, erzähle«, bat Karoline zwischen einem Kuss und dem nächsten, und er flüsterte: »Erst du, erzähl du…«
    Schließlich löste sie die Lippen von den seinen und fragte: »Willst du etwas essen?«
    »Nein, nicht jetzt.«
    »Etwas trinken?«
    »Ja, vielleicht.«
    Immer noch Küsse tauschend, murmelten sie halb erstickte Worte, während sie ins Schlafzimmer gingen. Von Karolines Eltern war wunderbarerweise nichts zu sehen, und auch das Personal schien verschwunden.
    Das Abendessen fiel aus, wurde aber später durch eine nächtliche Mahlzeit ersetzt. Minuten zuvor hatten sie noch in enger Umarmung gelegen. Karoline lachte und weinte zugleich, und Ludwig küsste ihr die Glückstränen von den Augen. »Du siehst mich die ganze Zeit an«, sagte sie mit leichtem Vorwurf in der Stimme.
    »So ist es«, antwortete er, »ich kann den Blick nicht von dir wenden.«
    »Weil du mich begehrst?«
    Er zögerte. »Ja, weil ich dich begehre.«
    »Und weil es dich erregt.«
    Er nickte nur, ohne zu lächeln.
    Sie richtete sich im Bett auf. »Lass dich anschauen. Ich habe dich noch gar nicht richtig angesehen. Versprichst du mir, dass du dir morgen als Erstes diesen monströsen Schnurrbart abrasierst? Er kitzelt und kratzt mich im Gesicht.« Wieder brach sie in helles Lachen aus, doch diesmal klang es ganz ungezwungen.
    Sobald die Eltern Schulzendorf von ihrer Tochter erfahren hatten, dass Ludwig sich telefonisch angekündigt hatte, war ihnen plötzlich eingefallen, dass sie dringende Besorgungen in der Stadt zu erledigen hatten. Als Karoline Ludwig am Ärmel desSchlafrocks, den sie ihm geliehen hatte, in die Küche zog, war es schon weit nach

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