Suess und ehrenvoll
Fenster und Türen…«
Nachdem sie die langwierigen Formalitäten in der Meldestelle hinter sich gebracht hatten, dachte Ludwig nur noch an Karoline. Als sie an der Schumannstraße vorbeikamen, hatte er das dringende Bedürfnis, gleich bei den Schulzendorfs zu klingeln und nach ihr zu fragen. Aber das ging jetzt wirklich nicht. Ehe er Karoline anrufen konnte, musste er Adalbert loswerden.
Während sie weitergingen, sah Ludwig seine Vaterstadt plötzlich mit anderen Augen. Die Gebäude aus rötlich braunem Sandstein lösten nostalgische Gefühle bei ihm aus. Bisher hatte er diesen besonderen Farbton unbewusst in sich aufgenommen, doch jetzt verband er Heimatgefühle damit. ›Hier ist mein Zuhause‹, dachte er, ›das Zuhause, für das ich an der Front kämpfe.‹ Seine Brust weitete sich in dem Gefühl, in diese Stadt zu gehören. ›Ja, von hier komme ich, aus Frankfurt, aus Deutschland, hier gehöre ich hin, und das kann mir niemand nehmen.‹ Dieses Hochgefühl wurde noch stärker, als er an die Paulskirche, den Römer und den Dom dachte. »Hier sind zehn deutsche Kaiser gewählt und gekrönt worden«, sagte er.
Adalbert nickte. »Und aus dem Brunnen ist roter und weißer Wein geflossen, das war doch mal was.«
Schließlich kamen sie zur Königsteiner Straße. »Das ist unsere Synagoge«, sagte Ludwig mit einem gewissen Stolz.
»Gehst du da oft hin?«
»In letzter Zeit nicht mehr.«
»Verstehe, die meisten Reichen und Bürgerlichen gehen auch bei uns nur zu Weihnachten und Ostern mal in die Kirche. Mein Stiefvater ist da ganz anders. Der rennt jeden Sonntagzum Gottesdienst und nimmt auch meine Schwestern mit. Ich kann damit nichts anfangen. Religion ist Opium fürs Volk, sage ich immer.«
»Aha«, sagte Ludwig und dachte bei sich: ›Hoffentlich kommt mein Kamerad nicht auf die Idee, meinen Vater in so ein Gespräch verwickeln zu wollen! Dann gibt es gleich Krach.‹
Selma Kronheim öffnete ihrem Sohn die Tür. Sie hatte Ludwig erwartet, wenn sie auch den genauen Zeitpunkt seiner Ankunft nicht hatte wissen können. Außer sich vor Freude schloss sie ihn leidenschaftlich und zutiefst gerührt in die Arme, als wolle sie ihn nie wieder loslassen. Sie wiederholte mehrfach »Mein Ludwig, mein Ludwig« und küsste ihn auf beide Wangen. Dann erst entdeckte sie Adalbert, der verlegen hinter ihm stand. »Ein Freund von dir?«, fragte sie ihren Sohn.
»Ja, ich werde dir das gleich erklären«, sagte Ludwig schnell.
»Nicht nötig«, winkte die Mutter ab, »deine Freunde sind auch meine Freunde. Kommen Sie herein, junger Mann!« Sie drückte Adalbert voller Wärme die Hand. »Nicht wahr, Sie werden bei uns bleiben, bis Ihr Urlaub zu Ende ist? Wunderbar.«
»Aber woher hast du gewusst, dass ich Adalbert eingeladen habe, bei uns zu wohnen?«, fiel ihr Ludwig ins Wort.
»Das habe ich dir an der Nasenspitze angesehen.« Lächelnd führte sie die beiden jungen Männer in die Wohnung und schloss die Tür hinter ihnen.
Vater Siegfried reagierte, wie sein Sohn es von ihm erwartet hatte: Er gab Ludwig die Hand und gönnte Adalbert keinen Blick. Seinen Sohn zu umarmen oder zu küssen war undenkbar, doch er schlug ihm auf die Schulter und lächelte anerkennend, als er das Eiserne Kreuz auf seiner Brust sah. Ludwig hatte den Eltern natürlich von der Verleihung geschrieben, aber nur die Mutter hatte ihm gratuliert und ihm dabei fast beiläufig »Glückwünsche von Vater« ausgerichtet. Erst später hatte er von Bekannten aus Frankfurt erfahren, dass der Vater unsäglichstolz auf Ludwigs Eisernes Kreuz war und sich überall damit brüstete.
›Er hat sich nicht verändert‹, dachte Ludwig und beeilte sich, Adalbert vorzustellen, der mit einem kühlen, flüchtigen Händedruck empfangen wurde. Mutter Selma, die wie immer ihren Sohn in Schutz nahm, verkündete, dass sie Adalbert eingeladen habe, seinen Urlaub bei ihnen zu verbringen.
Noch bevor Ludwig die Uniform auszog, rief er Karoline an und überließ Adalbert der Fürsorge seiner Mutter. Kaum eine Stunde später fuhr er auf seinem alten Fahrrad den vertrauten Weg in die Schumannstraße. Je näher er dem Haus der Geliebten kam, umso aufgeregter wurde er.
Das Wiedersehen mit Karoline machte ihm Angst. Auf der einen Seite sehnte er sich danach, sie in die Arme zu schließen und mit ihr ins Bett zu sinken. Monatelang hatte er sich das ausgemalt. Doch er fühlte auch eine fast unerklärliche Beklommenheit. ›Warum bin ich nicht ganz einfach glücklich‹, fragte er
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