Suess und ehrenvoll
Mitternacht, und die Eltern schliefen tief und fest.
Karoline stellte mit flinken Bewegungen Brot und Wurst auf den Tisch. Auch als die jungen Leute sich gegenübersaßen, blickten sie sich unverwandt an. Sie aßen schweigend mit verschlungenen Händen, während sie mit der jeweils freien Hand das Essen zum Mund führten.
Nach einer Weile sagten sie plötzlich gleichzeitig: »Jetzt musst du erzählen«, und brachen in Lachen aus.
»Wir bringen jetzt doch kein vernünftiges Gespräch zustande«, sagte Karoline schließlich, und Ludwig nickte und hielt mit den Augen ihren Blick fest.
»Eigentlich brauchst du mir auch nichts zu erzählen«, fuhr Karoline fort. »Bevor du kamst, habe ich mir eine Unmenge von Fragen zurechtgelegt, mit denen ich dich überfallen wollte, und mir gingen ebenso viele Geschichten durch den Kopf, die ich dir erzählen wollte.« Sie lächelte ihn an – mit diesem Lächeln, das sein Herz seit ihrer ersten Begegnung erbeben ließ. »Doch das ist nun gar nicht mehr nötig. Unsere Körper haben einander schon so viel erzählt. So zufrieden und glücklich wie jetzt bin ich seit einem Jahr nicht mehr gewesen.«
Ludwig nickte versonnen. »Mir geht es genauso.«
Als sie am späten Vormittag aufstanden, machte Ludwig sich tatsächlich daran, den Schnurrbart abzurasieren, während Karoline in der Tür des Badezimmers stand und zusah, wie das Rasiermesser seine vertrauten Züge bloßlegte. ›Das ist wieder mein Ludwig mit dem Babygesicht‹, dachte sie. Nach getaner Arbeit sah sie ihn fragend an, und er erriet sofort, worum es ging. »Ich weiß es nicht«, sagte er, als könnte er ihre Gedanken lesen, »ich habe keine Pläne. Hauptsache, ich bin mit dir zusammen. Ich mache alles mit, aber nur mit dir. Wo immer wir auch hingehen, ich sehe sowieso nur dich.«
»Dann werde ich dir sagen, was ich vorhabe. Zuerst gehen wir zu deinen Eltern. Ich habe mit deiner Mutter telefoniert. Sie möchte auch etwas von dir haben, nicht nur von dem unbekannten Soldaten , den du ihr ins Haus geschleppt hast. Sie hat versprochen, dir Kartoffelpuffer und zum Nachtisch Pfannkuchen mit süßer Quarkfüllung zu machen. Das magst du doch, nicht wahr?«
»Ich mag nur dich«, sagte er.
»Jetzt mal im Ernst«, sagte sie lachend, »zieh dich an, und wir gehen zu dir nach Hause. Von da aus machen wir einen langen Spaziergang, bei dem wir uns in Ruhe unterhalten können. Für heute Abend habe ich auch schon eine Idee, aber das werde ich dir später erzählen. Was die Nacht betrifft, dafür habe ich noch nichts geplant…«
Ludwig lächelte und verschloss ihr die Lippen mit einem Kuss, bis Karoline sich losmachte und entschlossen verkündete: »Schluss jetzt, Ludwig, zieh dich bitte an. Wir müssen das schöne Wetter ausnützen. Außerdem dürfen wir deine Mutter nicht warten lassen.«
»Und was ist mit deinen Eltern?«, fragte Ludwig plötzlich. »Ich wohne hier quasi bei euch und habe sie nicht einmal begrüßt.«
»Keine Sorge, sie sind nicht zu Hause«, sagte Karoline, als sei das Thema damit erledigt.
Sie wollte ihm nicht erzählen, wie sehr ihre Eltern sie unter Druck setzten, seit sie erfahren hatten, dass Ludwig auf Urlaub nach Hause kommen würde. Während sie früher nichts gegen ihn einzuwenden hatten, zeigten sie sich jetzt reserviert und besorgt. Die Beziehung zwischen den jungen Leuten ging ihnen zu tief. Das war keine Freundschaft mehr und auch keine Jugendromanze. Wenn ein Jahr Trennung ihr nichts anhaben konnte, musste es schon etwas Ernstes sein, dessen Ende nicht abzusehen war.
Und zu allem Überfluss teilte ihnen ihre Tochter entschieden mit, dass ihr jüdischer Freund, mit dem sie – gottlob – weder verheiratet noch verlobt war, während seines Urlaubs bei ihnen wohnen würde! Im Zimmer der Tochter! »Hat er kein eigenes Zuhause?«, riefen die Eltern wie aus einem Munde. »Natürlich hat er das«, erwiderte Karoline, die innerlich zitterte, »aber ich möchte ihn bei mir haben. Oder wollt ihr, dass ich zu seinen Eltern ziehe?«
Karoline wusste zwar, dass Ludwigs Vater das niemals dulden würde, aber das brauchte sie ihren Eltern ja nicht auf die Nase zu binden. Mit Mühe und Not wurde eine dramatische Krise in der Familie vermieden, nachdem Karolines Eltern widerstrebend erlaubten, dass Ludwig Karoline in ihrem Zimmer besuchte – aber er durfte nicht über Nacht bleiben!
Karoline erzählte Ludwig nicht, dass die Abwesenheit der Eltern am Morgen nach ihrer Liebesnacht eine Kampfansage war. Als die
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