Süß wie die Sünde: Roman (German Edition)
hinterher, dass man diese Reaktion als melodramatisch deuten könnte. Oder als überspannt. Und sie war weder das eine noch das andere.
Nein, sie wurde oft wegen ihrer Contenance gelobt, und Jude würde sie nicht aus der Ruhe bringen. Ein Diener kam vorbei, von dessen Tablett Marissa sich ein Weinglas nahm und es so schnell leerte, wie sie konnte. Natürlich nur, um ihre Contenance zu wahren.
Ans Tanzen dachte sie nicht mehr, als sie wütend auf Jude Bertrands breiten Rücken starrte. Er war unausstehlich, und sie konnte nur beten, dass sie den Mann nicht heiraten müsste. Fraglos würde er sie binnen Monaten in den Wahnsinn treiben.
Kapitel 6
B eim Aufwachen hatte Marissa einen verspannten Nacken und Kopfschmerzen. Beides befeuerte ihre Wut, als sie an ihrem Frisiertisch saß, mürrisch ihr Spiegelbild beäugte und an ihrem Tee nippte. Unterdes bürstete ihr die neue Zofe das Haar, frisierte es und kleidete Marissa an. Ein dummer Fehler, in angeheitertem Zustand begangen, und Marissa hatte alle Kontrolle über ihr Leben verwirkt. Schon vorher hatte sie nicht allzu viel zu bestimmen gehabt, aber an das Wenige hatte sie sich mit verbissener Entschlossenheit geklammert.
Sie hatte stets gewusst, dass sie eines Tages heiraten würde, nur hatte sie mitbestimmen können, wann. Sie hatte auch gewusst, dass sie ihr Zuhause verlassen müsste, aber erst, wenn sie bereit dazu war. Und sie hatte gewusst, dass sie ihr Leben mit einem Ehemann verbringen würde, aber wer das sein sollte, war ihr überlassen gewesen.
Und konnte sie sonst schon nichts mehr retten, würde sie sich zumindest dieses winzige Stück Freiheit zurückerobern: die Entscheidung, wen sie heiratete.
Nachdem ihr schlichtestes Kleid zugeknöpft und glatt gestrichen war, machte sich Marissa auf in den Kampf mit dem Baron.
Sie reckte ihr Kinn, was ein bisschen lächerlich aussehen mochte, öffnete die Tür zu Edwards Studierzimmer und rauschte hinein. Immerhin hatte ihre Familie sie gelehrt, wie man eindrucksvoll auftrat.
»Ah, Marissa«, begrüßte Edward sie und blickte von seinen Papieren auf. »Würdest du bitte die Tür hinter dir schließen? Wir müssen uns unterhalten.«
»Und ob wir das müssen.«
»Dann hast du es schon gehört?«
Marissas Kinn sank ein bisschen tiefer. »Was gehört?«
»Mrs James Ready bat mich heute Morgen um eine Unterredung. Ihr ist zu Ohren gekommen, dass es zwischen dir und Mr White einen Zwischenfall gab, und sie sorgt sich, dass es etwas ›Ruchloses‹ gewesen sein könnte. Sie möchte nicht, dass ihre Tochter Gerüchten ausgesetzt wird. Millicent ist einige Jahre jünger als du.«
Sämtliche Wut in Marissa verpuffte, als hätte sich ein Loch in ihr aufgetan, und ihre Knie wurden befremdlich gefühllos.
»Es gelang mir, sie zu beruhigen, indem ich sie ins Vertrauen zog. Ich erzählte ihr dieselbe Geschichte wie unseren Bediensteten, dass es wegen einer geringfügigen Eifersüchtelei zu einem Streit mit Peter White kam, aber im Grunde nichts weiter geschehen war.«
»Oh«, hauchte Marissa. »Ja, das ist gut.«
»Millicent hat sich dir gegenüber nicht auffällig betragen?«
»Nein, überhaupt nicht.«
Edward senkte den Kopf, und bei seinem Anblick schwand der letzte Rest Kraft aus Marissas Beinen. Vorsichtig setzte sie sich auf einen Stuhl.
»Wie auch immer, ich werde nicht alle Geschichten unterbinden können. Ich tue mein Bestes, doch …«
Sie nickte langsam und konnte zunächst nicht wieder aufhören damit. Erst jetzt begriff sie das ganze Ausmaß dessen, was sie getan hatte. Sie hatte nicht nur sich selbst geschadet, sondern auch ihrer Familie. Ihre unbedachte Tat traf Edward, der in seinem Leben nie etwas Unanständiges getan hatte. Sie traf ihre Mutter, die zwar gern in Ohnmacht fiel, gewiss jedoch keine Vorliebe für boshaftes Gelächter hegte. Und sie traf Aidan, der schon so viel Gerede ausgesetzt gewesen war, dass es für sein ganzes Leben reichte.
Marissa durfte sich nicht beklagen. Sie durfte nicht mit dem Fuß aufstampfen und verlangen, dass man ihr ihren Willen ließ. Falls sie heiraten musste, würde sie Jude Bertrand heiraten und dankbar für dessen Großzügigkeit sein.
Oder wenigstens nicht allen anderen grollen.
Edward lächelte verhalten. »Ich bin sicher, dass sich die Dinge regeln lassen, Rissa. Worüber wolltest du mit mir sprechen, wenn nicht über Mrs Ready?«
»Nichts. Es war nicht wichtig.«
»Mir schien es durchaus wichtig.«
»Nein.«
Wieder sah er auf seinen Schreibtisch.
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