Süß wie die Sünde: Roman (German Edition)
»Ich hatte gehofft, dass es um den Brief ging, den du gestern Abend bekamst.«
Sie erschrak. »Das hat er dir gesagt?«
»Wer? Jude? Nein, die Haushälterin. Ihr ist nicht entgangen, dass du dich ungestüm verhalten hast, und sie möchte dich vor einem Skandal bewahren. Ich nehme an, dass die Nachricht von Mr White war?«
»Er bat mich, ihn zu heiraten«, murmelte sie und fragte sich, warum sie so froh war, dass Jude sie nicht verraten hatte.
»Hast du deine Meinung in Bezug auf ihn geändert?«
»Nein! Was auch geschieht, ich werde Mr White nicht heiraten.«
»Gut. Aber du wirst es mir sagen, sollte er dir erneut eine Nachricht schicken?«
Sie dachte eine Weile nach, ehe sie stumm bejahte.
»Ach, und Aidan möchte unbedingt wissen, wo dieser White sich aufhält. Falls du es weißt, verrate ihm bitte nichts. Eine Mordanklage wäre in der gegenwärtigen Situation nicht hilfreich.«
Marissa verließ das Studierzimmer ohne ein weiteres Wort und ging nach oben, um ihrem falschen Verlobten ein Friedensangebot zu machen.
Jude zog seinen Gehrock aus und wickelte ihn zu einer Rolle zusammen. In der Ferne donnerten Gewehrschüsse. Er legte sich ins schattige Gras, den Kopf auf seinem Gehrock, und schlug das Buch auf, das ihm morgens auf sein Zimmer gebracht worden war.
Nachdem er es bekommen hatte, ließ Jude ausrichten, dass er nicht an der morgendlichen Jagd teilnehmen würde, und hatte sich zum Lesen in den Garten zurückgezogen. Es war ein schöner Morgen, unerwartet warm, und Marissa York zeigte sich ihm gegenüber weicher.
Nein, weicher war vielleicht das falsche Wort. Er wollte ja Spannung, und sie platzte beinahe vor selbiger.
Er starrte auf die erste Seite des Buches. Statt zu lesen, dachte er an Marissa. Sie war hübsch, vor allem aber faszinierte sie ihn. Ihre kaum verhohlene Wildheit reizte ihn ebenso wie diese Mischung aus Zuneigung und Verachtung, mit der sie von Männern sprach. Heißes Temperament und kühle Worte.
Weder in ihrem Auftreten noch in ihrer Kleidung unterschied sie sich von anderen jungen Damen der feinen Gesellschaft. Und dennoch brodelte es hinter der Fassade von Normalität.
Jude hatte sie schon aus der Ferne bewundert; nun aber, aus der Nähe, war er bezaubert.
Er würde ihr allerdings nicht wie ein liebeskranker Welpe hinterherhecheln. Derlei Aufmerksamkeit genoss sie bereits zur Genüge und nahm sie kaum noch wahr. Gegenwärtig waren hier mindestens zwei junge Herren, die sie anhimmelten, und Marissa betrachtete sie lediglich als Tanzpartner, sonst nichts. Judes Absicht indes war, ihr Interesse zu wecken.
Marissa war gelangweilt, rastlos und verwöhnt, ohne sich dessen bewusst zu sein.
Jude zupfte die Nachricht aus den Buchseiten und betrachtete lächelnd ihre verschnörkelte Schrift. So trügerisch zierlich. Sie mochte jeden narren, ihn nicht.
Er erkannte die Bedeutung hinter den schlichten Worten. Eine bewundernswert gefühlvolle Geschichte, hatte sie geschrieben. Und das war sie zweifelsohne.
Dieses Buch war ein Schlüssel, der ihm helfen würde, sie zu enträtseln. Deshalb konzentrierte er sich auf den Text. Und ehe er sich’s versah, war er in die Dialoge und sich entwickelnden Dramen versunken. Die Zeit verging, und die Sonne wanderte weiter, sodass der Schatten weit über Judes Beine gekrochen war, als er aufsah und eine Frau im Garten entdeckte. Marissa. Sie hatte ihn noch nicht bemerkt, und er rührte sich nicht.
Stattdessen beobachtete er sie. Sie eilte die grasbewachsenen Wege entlang und schnippte vertrocknete Blüten weg. Was natürlich unnötig war, denn die Rosensträucher würden ohnedies bald zum Winter gestutzt; da störten ein paar tote Blüten nicht. Doch offenbar entspannte sie diese unnütze Betätigung. Zumindest wirkte ihr Gesicht friedlich und jünger.
Sie musste sich wegen ihrer Zukunft sorgen, auch wenn sie es sich bisher nicht anmerken ließ. Jude hatte sie schon wütend, glücklich, verärgert und fröhlich erlebt. Und nun sah er sie friedlich. Ängstlich hingegen hatte sie noch nie ausgesehen.
Seine Mutter würde sie mögen, und er war sicher, dass sich die beiden Frauen eines Tages begegnen würden. Marissa war keine Dame, die sich die Gelegenheit entgehen ließ, eine echte Kurtisane kennen zu lernen. Man müsste es wohl vor der Gesellschaft geheim halten, aber Marissa könnte auf keinen Fall widerstehen. Was Jude von anderen feinen Damen nicht behaupten würde.
Sie schaute auf und erstarrte, als sich ihre Blicke trafen. Jude hob das
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