Suesse Hoelle
haben. Es ist nur eine vage Vermutung, aber wenn du dich wirklich am Tatort aufhältst, kannst du vielleicht mehr von ihm erfassen.«
Als sie sich das letzte Mal mit an einem Tatort befand, wurde Dusty umgebracht. Hilflos hatte sie dagelegen und zusehen müssen, wie Gleen einen entsetzten und genauso hilflosen kleinen Jungen abgeschlachtet hatte. Seit jenem Tag verfolgten sie ihre Erinnerungen; es war nicht fair von Dane, sie darum zu bitten, diesem Schrecken einen weiteren hinzuzufügen. Er wusste, was hinter ihr lag, aber hatte es nicht am eigenen Leibe erfahren - deshalb hatte er auch keine Ahnung von dem Entsetzen, ihrer Vergangenheit.
Sie starrte in seine wild entschlossenen Augen und fühlte die Kraft seines Willens. Ich kann ihm widerstehen, dachte sie matt. Schwieriger war es jedoch, die schweigenden Bitten von Nadine Vinick, von Jackie Sheets und Marilyn Elrod zu ignorieren. Sie sah sie alle vor sich, ihre Schatten riefen nach Gerechtigkeit.
Warum war es ihr nicht gelungen, in ihre Gedanken einzudringen, anstatt in die des Mörders? Nach welchem Kriterium hatte sie ausgewählt, vielleicht hatte eine von ihnen oder sogar alle seinen Namen gekannt? Doch statt dessen war es seine mentale Energie, die sie empfangen, die sie gezwungen hatte, das Böse zu spüren. Doch einmal war es ihr bereits gelungen, in die Gedanken des Opfers einzudringen: Sie hatte Dustys Sterben gefühlt, und es hatte sie beinahe umgebracht. Was wäre geschehen, wenn sie noch einmal diesen Schmerz und diesen Schrecken erdulden musste?
»Marlie ?« Dane schüttelte sie ein wenig und zwang sie, ihn anzusehen.
Sie reckte sich. Sie konnte dieser Sache jetzt genauso wenig den Rücken zukehren wie am Anfang. »Es muss sein«, meinte sie. »Ich werde mit dir gehen.«
Da sie nun einmal zugestimmt hatte, verlor er keine Zeit. Innerhalb von fünf Minuten fuhren sie los. Es war gerade Mittag, das Ende der Gottesdienste, und Kinder schwärmten durch die etwas gehobenere Wohngegend, wo das Elrod-Haus stand. Marlie saß schweigend neben Dane im Wagen, sie blickte auf ihre im Schoß gefalteten Hände, während sie sich auf das vorbereitete, was vor ihr lag. Sie wusste nicht, was auf sie zukam, vielleicht nichts; oder sie würde ihre Vision noch einmal durchleben, gar etwas Neues fühlen.
Möglicherweise würde sie in den Spiegel sehen und von Angesicht zu Angesicht einem Mörder gegenüberstehen.
Sie kannte ihn, er mordete ohne Reue. Es machte ihm Spaß. Er ergötzte sich am Schmerz und Entsetzen seiner Opfer. Äußerlich mochte er ein Mensch sein, doch dahinter verbarg sich ein Monster, das so lange tötete, bis ihm jemand Einhalt gebot.
Dane bog von der Straße in die Einfahrt. Das Haus war ringsum mit dem gelben Band der Polizei abgesperrt. Obwohl die Leiche schon vor vierundzwanzig Stunden gefunden worden war, standen die Nachbarn noch in kleinen Gruppen glotzend herum, erzählten einander Einzelheiten, die sie aus dem Fernsehen und aus der Zeitung erfahren hatten, und fügten blutrünstige Gerüchte hinzu.
»Wir glauben, dass er durch die Garage ins Haus gelangt ist, als sie am frühen Abend das Haus verließ«, sagte Dane und legte eine Hand unter Marlies Ellbogen, um sie zur Haustür zu geleiten. Er hob das gelbe Band hoch, damit sie drunter durchschlüpfen konnte. »Weil der Strom ausgefallen war, als sie nach Hause kam, hat der elektrische Öffner des Garagentors nicht funktioniert, also musste sie den Wagen vor der Garage stehenlassen und die Haustür benutzen. Das Alarmsystem hat ohne Strom auch nicht funktioniert, doch es hätte ihr sowieso nicht helfen können. Die Tür von der Garage zum Haus war nicht daran angeschlossen. Die Menschen treffen die dümmsten Entscheidungen aus den dümmsten Gründen. Mr. Elrod hat uns gesagt, diese Tür war ausgenommen, damit sie eine Möglichkeit hatten, ins Haus zu gelangen, ohne sich mit dem Alarmcode herumärgern zu müssen. Genauso gut hätten sie ein Schild aufstellen können mit dem Hinweis: »Einbrecher bitte hier herein.«
Er hörte nicht auf zu reden, als er die Haustür aufschloss und sie in den Flur schob. Die Alarmanlage hatte man ausgeschaltet, weil am Tag zuvor so viele Menschen gekommen und gegangen waren.
Marlie holte tief Luft. Das Haus sah verräterisch normal aus, bis auf das schwarze Pulver, das auf jede glatte Oberfläche gestreut worden war. Es war einmal ein hübsches Haus der gehobenen Mittelklasse gewesen. Marlie fragte sich, ob je wieder jemand hier wohnen würde, ob Mr.
Weitere Kostenlose Bücher