Süsse Küsse und unschickliche Geheimnisse
darüber reden.“
Nathaniel runzelte die Stirn, nahm die Zeitschrift jedoch an. „Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich nicht besonders erfreut sein werde. Wäre dir halb neun recht?“
„Ich werde da sein. Bitte warte auf mich, bevor du irgendwelche Entscheidungen triffst.“
Nach einem knappen Nicken öffnete er sich selbst die Tür, trat hinaus und drehte sich noch ein letztes Mal um, in dem Versuch, seinen Freund zu besänftigen. Nur leider wollte ihm nichts einfallen. Er wollte auf keinen Fall, dass die Dinge sich zuspitzten, besonders da auch er an die Werte glaubte, die Mr. Goodfellow vertrat. Gerade war er im Begriff, sich für den Abend zu bedanken und sich zu verabschieden, da schlug Nate ihm die Tür vor der Nase zu.
Trotzdem blieb David noch genügend Zeit, um etwas Gelbes am oberen Treppenabsatz wahrzunehmen – Miss Fairchilds Seidenkleid. Hatte sie etwa ihr Gespräch mit angehört?
9. KAPITEL
Ihr blieb nur, zu unfeinen Mitteln zu greifen, wenn sie erfahren wollte, was sich zwischen Nathaniel und Mr. Archer abspielte. Die Gesprächsfetzen, die sie gestern Abend aufgeschnappt hatte, hatten sie die ganze Nacht nicht schlafen lassen. Wie sie die Worte auch drehte und wendete, Anna verstand ihren Sinn nicht. Jetzt stand sie vor dem Büro und überlegte, wie sie vorgehen sollte.
Die Kutsche, die nur wenige Meter entfernt am Straßenrand hielt, war genau die, die Mr. Archer für seine Zeit in Edinburgh gemietet hatte. Mit dieser Kutsche hatte er sie zum Schloss gefahren, und Anna erkannte auch den Fahrer wieder. Entschlossen betrat sie die Redaktion.
Stille erwartete sie im Inneren des Gebäudes, da die übrigen Mitarbeiter erst um neun Uhr ihren Dienst begannen. Da Nathaniel einen früheren Zeitpunkt für sein Treffen mit Mr. Archer vorgeschlagen hatte, musste er das ganze Unterfangen geheim halten wollen. Wenn etwas so große Wichtigkeit besitzt, dachte Anna, dann ging es auch die Zeitschrift etwas an und somit auch mich. Es überraschte sie allerdings nicht, dass Nathaniel glaubte, er müsse es ohne sie bewältigen. Sie hingegen wollte über alles informiert sein. Also war ihr nichts anderes übrig geblieben, als heute Morgen hier zu erscheinen, um sich ein Bild zu machen. Als sie die Haustür hinter sich schloss, hörte sie zum ersten Mal die gedämpften Geräusche aus Nathaniels Büro.
Sie trat näher und blieb einen Moment zögernd stehen. Sollte sie das offenbar sehr lebhafte Gespräch unterbrechen? Die Stimmen wurden lauter, und obwohl Anna insgeheim ihre Neugier verwünschte, hielt sie das Ohr an die Tür.
Treybourne … Goodfellow … „Gazette“ … „Whiteleaf’s“ … London … Artikel … Grundsätze … diese Reise … übereingekommen …
Eine Weile hörte sie noch fasziniert zu, dann wandte sie sich um, und ihr Blick fiel zufällig auf etwas auf Leshers Schreibtisch. Konnte es sein? War die neueste Ausgabe der „Whiteleaf’s Review“ schon angekommen? Anna ging hinüber, legte ihr Retikül auf den Tisch und nahm die Zeitschrift zur Hand, die sie sofort auf Seite vier aufschlug – die Seite mit dem Artikel Seiner Lordschaft.
Wenn sie schon über die Eröffnungssalve erschrocken war, so musste sie feststellen, dass der Artikel mit jedem Absatz, mit jedem Satz erboster und grimmiger wurde. Anna musste sich Halt suchend an den Schreibtisch lehnen, während sie weiterlas. Zuerst riss sie nur fassungslos die Augen auf, dann schnappte sie mehrere Male empört nach Luft.
Lord Treybournes Schlusssatz war eine so offene Herausforderung, als hätte er Goodfellow mit dem Handschuh ins Gesicht geschlagen und Sekundanten benannt. Die Zeitschrift fester packend, las sie:
Als ich die ersten Fragen beantwortete, die in der „Gazette“ gestellt wurden, vertraute ich darauf, dass ich mich im Namen aller besonnen denkenden Männer, die ihren König und seine Regierung unterstützen, auf einen Diskurs einließ, der eines Gentleman würdig ist. Dem Verfasser scheint es allerdings ganz so, als befände sich der Geist der Aufklärung, der in unserem Nachbarland Schottland doch angeblich so hoch geschätzt wird, in seinem Niedergang. Man höre und staune, statt auf eine ehrliche Auseinandersetzung und Prüfung sind meine Worte zur Verteidigung unseres Königs auf erniedrigende Kränkungen und überdies gar gemeine Drohungen gestoßen.
Wenn sich zwei Gentlemen nicht begegnen können, um Worte von großer politischer Bedeutung auszutauschen und ihre Einstellung zu der Lage zu äußern,
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