Süsse Küsse und unschickliche Geheimnisse
denen die Menschen in diesem erhabenen Königreich gegenüberstehen, dann ist mehr verloren, als wir ahnen.
Etwas jedoch ist deutlich geworden – mein Gegner in diesem Krieg der Worte kann kein Gentleman sein. Ein Gentleman würde seine Wahrheit verkünden und sich zu ihr bekennen. Niemals würde er sich hinter seiner Anonymität verstecken. Ein Gentleman würde Ehre zu seinem Schild machen und sich nicht in dem sogenannten „Athen des Nordens“ verkriechen, nicht geneigt, denen seine Identität zu enthüllen, die er jedoch die Dreistigkeit besitzt, mit Anschuldigungen der Veruntreuung und Missachtung des gemeinen Wohls zu beleidigen.
Es war nicht meine Entscheidung, unsere politische Auseinandersetzung zu einem persönlichen Kampf auswachsen zu lassen, allerdings werde ich auch nicht vor einer solchen Herausforderung zurückscheuen. Vielmehr werde ich Sie ebenfalls herausfordern – Mr. Goodfellow, ich fordere Sie dazu heraus, sich zu enthüllen und ins Licht der Öffentlichkeit zu treten. Ich behaupte, dass sich Blut nicht verleugnen lässt, und Ihres hat Sie als Mann ohne Ehre entlarvt.
Treybourne
Anna konnte kaum atmen. Sie las erneut die letzten Absätze und konnte immer noch nicht fassen, welche Beleidigungen dort standen. Wenn sie ein Mann wäre, würde sie ihn fordern und die Waffe für ihre Ehre antworten lassen. Wenn sie ein Mann wäre … Anna seufzte. Wenn sie ein Mann wäre, hätte nichts von alldem passieren müssen.
„Verflixter Kerl!“, sagte sie leise. Dieser Aufsatz war gefährlich. Bisher hatte Goodfellow es geschafft, seine Argumente zu äußern, ohne sich Feinde zu schaffen. Gegner hatte es natürlich immer gegeben, doch nun waren die Anfeindungen stärker, und die Beleidigungen richteten sich direkt gegen den Charakter und die Ehre des Widersachers.
Das lenkte die öffentliche Aufmerksamkeit zu sehr auf die beiden Gegner, besonders da der Earl die Enthüllung von Goodfellows Identität verlangte. Dabei musste der Schwerpunkt auf den Streitfragen liegen, um die es beiden ging, sonst würde der Kampf von vornherein verloren sein. Was noch wichtiger war – wenn die „Gazette“ von der einflussreichen Familie des Earls und dessen mächtigen politischen Verbündeten in den Ruin getrieben werden würde, würden so viele Menschen betroffen sein und jede Hoffnung auf Fortschritt im Keim erstickt werden. Anna hätte nicht mehr die Möglichkeit, die Schule und ihre sonstige Wohltätigkeitsarbeit zu fördern, und was es für sie selbst und ihre Familie bedeuten würde, wagte sie sich gar nicht erst vorzustellen.
Ohne Zweifel war dies auch der Inhalt des Gesprächs zwischen Nathaniel und Mr. Archer. Ein Gespräch, das in den letzten Minuten verdächtig leise geworden war. Anna senkte die Zeitschrift in ihrer Hand und fand sich unvermittelt beiden Männern gegenüber, die sie unverwandt ansahen.
„Dann hast du das hier schon gelesen?“, fragte sie fast vorwurfsvoll.
„Anna.“ Nathaniel nahm sie am Arm und führte sie in das Büro. „Die anderen werden gleich hier sein. Komm herein, damit wir darüber reden können.“
Irgendetwas stimmte hier nicht. Beide sahen sie mit Besorgnis an, sicher, doch gleichzeitig machten sie den Eindruck, ein schlechtes Gewissen zu haben.
Anna versuchte, Nathaniels Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und da sah sie es wieder: Wie schon zuvor einmal blickten sie sich an wie zwei Jungen, die bei einer Untat ertappt worden waren.
Aber bei welcher Untat?
Ihr Blick fiel auf die Zeitschrift in ihrer Hand, und sie erinnerte sich, dass Nathaniel gestern Abend bei seinem Gespräch mit Mr. Archer ebenfalls ein Exemplar der „Review“ gehalten hatte. Und zwar, bevor sie in Edinburgh zu kaufen gewesen war, denn die Lieferung der neuesten Ausgabe wurde erst für den nächsten Morgen erwartet.
Mr. Archer hatte also vor jedem anderen in Edinburgh eine Ausgabe der „Review“ in Händen gehabt.
„Mr. Archer …“
Ein Verdacht formte sich in ihrem Kopf, aber sie konnte ihn nicht aussprechen. War es möglich, dass Mr. Archer für Lord Treybourne arbeitete? Hielt er sich auf Befehl des Earls in Edinburgh auf? Was war der Zweck seines Hierseins?
„Miss Fairchild“, begann er und schüttelte den Kopf. „Ich kann alles erklären.“
Und da erkannte sie die Wahrheit. Er war gekommen, um alles über Goodfellow in Erfahrung zu bringen und seine Bekanntschaft mit Nathaniel zu nutzen, um die Artikel zu unterbinden. Doch offenbar hatte Nathaniel ihm die Stirn geboten,
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