Süsse Küsse und unschickliche Geheimnisse
Fairchild? Ich verspüre den Wunsch nach etwas frischer Luft. Könnte ich Sie dazu bewegen, einen Moment mit mir hinauszugehen?“
Überall hielten sich viele Menschen auf, sie würden keinen Moment allein sein, also hielt Anna den Vorschlag nicht für unschicklich. Mr. Archer führte sie zu einem kleinen Platz nicht weit von den Gehwegen entfernt. Dort stellte er sich so hin, dass der Schatten der Bäume sein Gesicht verdeckte. Anna sah sich um, ob sie beobachtet wurden.
„Verstecken Sie sich, Mr. Archer?“
„Es ist Ihnen aufgefallen?“, fragte er amüsiert.
„Aber warum, Sir? Ist Ihnen ein freier Abend nicht erlaubt?“ Anna lachte leise und sah sich wieder um. „Es scheint niemand ein Interesse an Ihrer Anwesenheit hier zu haben.“ Er trat jedoch nicht aus dem Schatten heraus. „Ist Lord Treybourne ein so strenger Arbeitgeber, dass er Ihnen keine freie Zeit zubilligt?“
„Ich möchte nur einfach nicht gezwungen sein, seine jüngsten Äußerungen verteidigen zu müssen, Miss Fairchild.“
„Aha. Also wissen Sie, welchen Aufruhr seine Worte hier ausgelöst haben? Es scheint wirklich ein wahrer Sturm heraufzuziehen.“
Plötzlich streckte er die Hand aus und hob leicht ihr Kinn an. Anna war so überrascht, dass sie sich nicht rührte.
„Sie scheinen über diese Entwicklung nicht sonderlich verstimmt zu sein. Glauben Sie denn, dass Mr. Goodfellows Argumente dadurch gestärkt werden?“
„Ich glaube“, sagte sie, „sie wird helfen, Aufmerksamkeit auf die Probleme zu lenken. Lord Treybournes Hochmut und seine Gefühllosigkeit werden die Unzulänglichkeiten seiner Partei nur umso deutlicher machen.“
Sanft und nur für einen kurzen Moment strich er ihr mit den Fingern über die Wange. „Denken Sie an nichts anderes als die ernsten Probleme unserer Gesellschaft?“ Er lächelte sie geheimnisvoll an. „Erlauben Sie sich nie etwas Zeit für sich?“
„Wir sprachen über Lord Treybournes Anspruch auf Ihre Zeit, Mr. Archer.“ Anna wich vor seiner Berührung zurück, weil sie sie zu sehr genoss. Die leiseste Liebkosung brachte sie aus der Fassung.
„Dann ist es also bereits die Erwähnung von Lord Treybourne, die diesen gerechten Zorn in Ihnen weckt? Sie geben Seiner Lordschaft sehr viel Macht über Ihr Leben.“
Anna wollte ihm widersprechen und auf die vielen Fehler hinweisen, die der Mann besaß und gegen die Goodfellow ankämpfte, doch sie war noch zu verwirrt von seiner Berührung. Sie erinnerte sich an das erste Mal, als sie ihn in Nathaniels Büro gesehen hatte, und ihr fiel auf, dass ihr erster Eindruck sie nicht getäuscht hatte – er war wirklich ein Teufel, der sie in Versuchung führen wollte.
Wieder hob er die Hand, doch nur, um ihr eine Locke aus dem Gesicht zu streichen. Wusste er eigentlich, welche Macht er über sie besaß? Wäre sie ein unschuldiges Mädchen, gerade eben erst dem Schulzimmer entwachsen, könnte er sie leicht zu sehr gefährlichem Verhalten verführen, und wenn er tausendmal mit Lord Treybourne in Verbindung stand.
„Sie haben nach Luft geschnappt. Ist Ihnen nicht wohl, Miss Fairchild?“
Er kam ihr jetzt noch näher, und Anna bewegte sich wie gebannt auf ihn zu, bis auch sie im Schatten stand. So dicht war er bei ihr, dass sie aufblicken musste, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Noch ein Fehler, denn er beugte den Kopf, und einen Moment lang glaubte sie, er würde versuchen, sie zu küssen.
Jedenfalls dachte sie das. Und hoffte es. Und sehnte es herbei.
Sosehr sie versuchte, sich aus seinem Bann zu befreien, ertappte sie sich dabei, wie ihr Blick auf seine Lippen fiel. Sie schwankte leicht.
„Wenn Sie schon in Ohnmacht fallen möchten, Miss Fairchild, dann wegen einer erfreulichen Sache, nicht wegen des langweiligen alten Lord Treybourne.“
Sie begann zu lachen, doch sein Kuss erstickte jeden weiteren Laut. Er berührte ihre Lippen zunächst nur ganz sanft, dann etwas drängender. Als sie protestieren wollte, nutzte er die Gelegenheit und drang leicht mit der Zunge ein. So schnell, wie es begonnen hatte, war es vorbei, und Mr. Archer trat zurück und atmete tief ein.
Anna konnte allerdings nicht atmen. Obwohl sie noch nie eine Ohnmacht erlebt hatte, wie düster die Umstände auch gewesen sein mochten, fühlte sie sich jetzt einer nahe. Noch schlimmer war, dass sie nicht imstande zu sein schien, ein Wort hervorzubringen. Sein Benehmen war alles andere als schicklich gewesen, und sie sollte ihn streng tadeln und vor den Folgen eines weiteren
Weitere Kostenlose Bücher