Sueße Prophezeiung
Avalon. Er musste von Claudia sein. Kein anderer hatte sowohl das Bedürfnis als auch die Mittel, um die Kincardines vor Bryce’ Komplott zu warnen, um es so zu vereiteln.
Marcus’ tiefe Stimme drang in ihre Gedanken. »Was seht Ihr?«
Er fragte sie nicht, was sie dachte, sondern vielmehr, was sie sah. Das war ein beabsichtigter Hinweis darauf, dass er von ihren Visionen wusste, ja, vielleicht sogar auch ihre Gedanken lesen konnte. Avalon ließ sich nichts anmerken. »Nichts. Nur einen Brief.«
»Wirklich? Eigentlich hatte ich gedacht, Ihr wüsstet, wer ihn geschickt hat.«
Avalon gab ihm den Brief zurück. »Richtig. Und ich weiß auch, warum. Es ist offenkundig, wenn man sich mit den Fakten der Angelegenheit auseinander setzt.«
Marcus legte die Fingerspitzen beider Hände aneinander.
»Lady Claudia, die Frau meines Cousins Bryce, hat durch eine Verhinderung der Heirat viel zu gewinnen und nichts zu verlieren.«
»Tatsächlich?«
»Weil sie keinen Krieg will.« Avalon ließ ihre Hand wieder über die Papiere gleiten. »Sie war es, die mich am Abend zuvor in die Pläne ihres Mannes einweihte. Sie gab mir zu verstehen, dass es ihr Wunsch sei, ich möge dem Ganzen irgendwie Einhalt gebieten.«
»Ihr solltet dem Ganzen Einhalt gebieten? Wie denn?«
»Oh, ich weiß nicht. Vielleicht sollte ich an die Öffentlichkeit treten und Bryce und Warner anprangern.« Sie schüttelte den Kopf.
»Hättet Ihr das getan, Avalon?«
Seine Frage klang ernsthaft, während er so an seinem Tisch saß und sie anblickte. Sie musste den Blick vom blauen Glanz in seinen Augen abwenden.
»Ich hatte einen besseren Plan«, erklärte sie und wollte es am liebsten dabei belassen. Doch sie fühlte sich gezwungen fortzufahren, um seinem fragenden Blick zu genügen. »Es schien mir das Beste, in die Verlobung einzuwilligen. Ich wollte die Burg verlassen, sobald die Feier vorüber war. Doch hatte ich nicht erkannt, dass Bryce für jenen Abend eine Hochzeit und nicht nur eine Verlobung vorgesehen hatte. Im Garten meines Vaters hatte ich vor zu überlegen, was ich tun sollte.«
»Und da habe ich Euch dann gefunden.«
»Ja«, erwiderte sie aus irgendeinem Grunde patzig.
»Also habe ich Euch im Grunde vor den Ränken Eures Cousins bewahrt, nicht wahr?«
»Wenn Ihr damit andeuten wollt, dass Ihr durch meine gewaltsame Entführung ...«
»Tatsächlich habe ich Euch aus einer Situation befreit, der Ihr selbst nicht so leicht entflohen wäret.«
»Mich befreit!«, stieß sie hervor.
»Und mir scheint, dass, unter Berücksichtigung dieser neuen Fakten, Ihr mir eine Gunst schuldet, Mylady.«
Avalon öffnete den Mund, doch sie fand nicht die Worte, um ihrer Wut Ausdruck zu verleihen.
»Letztendlich stellt sich heraus, dass ich Euch einen großen Dienst erwiesen habe«, wiederholte Marcus milde.
Voller Hochmut wandte sie sich von ihm ab und stolzierte zur Tür.
»Gute Nacht«, rief er ihr mit einem Lachen in der Stimme nach. »Wir können morgen über die Gunst sprechen, die Ihr mir gewähren werdet.«
Beim Hinausgehen schmetterte sie die Tür hinter sich zu.
9
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»Du musst daran denken, die Handgelenke gerade zu halten.« Avalon beugte sich über das braunhaarige Mädchen, ließ ihre Finger über deren Arm nach unten gleiten und tippte auf ihr Handgelenk. »Hier, siehst du? Wenn du die Gelenke beim Zuschlagen beugst, verlierst du an Kraft und verletzt dich sogar selbst dabei.«
Das Mädchen hieß Inez, und gehorsam brachte sie ihre Hand, Avalons Beispiel folgend, in die richtige Stellung. Avalon hielt sie für ungefähr vierzehn Jahre; sie hatte somit fast genau das gleiche Alter, in dem Avalon ihre Kampfausbildung beendete.
Inez hatte sanfte braune Augen und ein freundliches, einnehmendes Lächeln. Sie war eines von sieben Mädchen in Avalons recht zusammengewürfelter Gruppe, die sich freiwillig gemeldet hatte, die Fähigkeiten der Kriegsmaid zu erlernen. Es waren insgesamt achtundzwanzig Schüler, alles Kinder. Doch am Rande der Gruppe verweilten einige Erwachsene – Männer und Frauen gleichermaßen.
Als Inez und ihre Freundinnen an jenem ersten Morgen schüchtern vorgetreten waren, um am Unterricht teilzunehmen, hatten die Jungen gestöhnt und sie verscheucht. Doch dann rief Avalon sie zur Räson, indem sie erklärte, dass sie keinen einzigen von ihnen unterrichten würde, wenn nicht alle willkommen wären.
Die Jungen hatten zu ihr geschaut und dann zurück zu den zwar mürrischen, aber auch noch hoffnungsvollen
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