Süße Rache: Roman (German Edition)
und ihre Rechnungen zu bezahlen. Körperlich fühlte sie sich ausgezeichnet, nicht nur für jemanden, der gepfählt worden und vorübergehend gestorben war, sondern es ging ihr besser als seit Jahren. Sie war aktiv, sie hatte genug zu essen, und sie schlief gut. Wenn sie die zwei Millionen guten Gewissens für sich selbst hätte verwenden können, ja, dann wäre ihr Leben noch besser gewesen, aber das ließ ihr Gewissen nicht zu.
Wer auch immer behauptet hatte, dass Geld korrupt macht, hatte etwas Grundlegendes verwechselt. Geld war okay; Geld war gut. Welches zu haben war besser, als keines
zu haben. Korrupt waren die Menschen, nicht das Geld. Sie hätte liebend gern von einem Teil der zwei Millionen ein nettes Haus und ein neues Auto gekauft, aber jedes Mal, wenn sie sich halb dazu überredet hatte, protestierte eine leise Meckerstimme: »Nein, das läuft nicht.«
Trotzdem wusste sie, dass sie das Geld, das auf ihrem Konto lag und sie jeden Tag in Versuchung führte, loswerden musste, ehe sie einen schwachen Moment hatte, in dem die innere Meckerstimme gerade Kaffeepause machte. Sie wünschte sich nur, dass dieses eine Mal das, was sie tun wollte, mit dem übereinstimmte, was richtig war.
Na schön. Sie hatte immer noch ihren Schmuck, den hatte sie nicht gestohlen, weshalb es kein Problem sein dürfte, ihn zu verkaufen und das Geld auszugeben. Die Summe würde sich bei Weitem nicht auf zwei Millionen belaufen, aber sie besäße ein finanzielles Polster – es sei denn, die Meckerstimme befahl ihr, alles zurückzuzahlen, was sie von den zwei Millionen abgezweigt hatte, womit sie wieder bei Null angekommen wäre. Anständig zu sein war definitiv kein Kinderspiel.
Ein Gewitter rollte um siebzehn Uhr über sie hinweg; gewöhnlich herrschte um diese Zeit, zu der alle nach Hause fuhren, Hochbetrieb im Truck Stop, aber unter den schweren Regenschleiern blieben die Menschen lieber im Auto und zuckelten im Schneckentempo über die Interstates und Nebenstraßen. Anzuhalten wäre vielleicht klüger gewesen, doch niemand wollte aussteigen und sich durchnässen lassen. Sogar die großen Sattelschlepper rollten vorbei. Die Gäste, die schon im Restaurant saßen, blieben sitzen, nuckelten an ihrem Kaffee oder beschlossen, doch noch ein Stück Kuchen zu essen, aber alles in allem hatten die Küche und die Bedienungen Zeit, kollektiv durchzuschnaufen.
Es blieb leer. Eine Unwetterfront nach der anderen zog über die Stadt hinweg, doch auch wenn sie ungeschoren davonkamen, was die angesagten Tornados betraf, boten sich atemberaubende Gewitterszenen. Ganze Geschwader von Blitzen zuckten über ihnen durch den Himmel, und Böen jagten den Müll in Raketensalven waagerecht über den Parkplatz. Andie hatte schon immer eine Schwäche für Gewitter gehabt, darum trat sie, sobald sie eine Gelegenheit dazu hatte, ans Fenster und sah hinaus.
Als es dunkel wurde, ließen Wind und Regenschauer nach, und der Gastraum begann sich wieder zu füllen. Doch Mutter Natur war mit ihrem Feuerwerk noch nicht fertig; die letzte Gewitterfront zog durch und lieferte ein kleines Nachspiel, das allerdings nicht so dramatisch ausfiel wie die vorangegangen Akte. Als ein besonders strahlender und lang anhaltender Blitz den Himmel erhellte, sah Andie automatisch aus dem Fenster.
Wenn der Mann auf das Restaurant zugegangen wäre, hätte sie ihn nicht weiter beachtet. Aber er ging nicht; er stand reglos wie ein Fels im Regen, während der Blitz hinter ihm herabzuckte. Das Gesicht war nicht zu erkennen, weil er einen langen Regenmantel trug und sich nur als dunkler Umriss abzeichnete, aber so wie ihr der Magen in die Knie sackte und ihr der Atem stockte, wusste sie es einfach. So reagierte sie auf keinen anderen Mann.
Sie zwang sich, vom Fenster wegzugehen, als hätte sie nichts Ungewöhnliches bemerkt. Am liebsten wäre sie schreiend davongelaufen, aber sie durfte jetzt auf keinen Fall in Panik geraten; das hatte sie schon einmal durchlebt.
So wie er dort stand und ins Restaurant starrte, musste sie daran denken, wie Cassie den Mann beschrieben hatte, der ihr letzten Monat aufgefallen war. Hatte er sie
schon damals beobachtet? Wie lange wusste er schon, wo sie lebte? Mindestens seit einem Monat, davon war sie überzeugt. Worauf wartete er also? Warum hatte er noch nicht zugeschlagen?
Ihr wollte nicht in den Kopf, was er da trieb. Vielleicht spielte er mit ihr Katz und Maus. Vielleicht war das eine Art Test, vielleicht wollte er feststellen, wie lange
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