Süsse Sehnsucht Tod
an ihm herab. Kondenswasser, das aussah wie Tränen, die sich am unteren Rand des Spiegels verloren.
Iris stand auf. Nach dem Duschen hatte sie nur ihren dünnen Slip übergestreift. Bei den Bewegungen schaukelten ihre Brüste, und sie sah auch die Speckröllchen an ihren Hüften. So ganz glücklich war sie damit nicht, doch nur Körner essen wollte sie auch nicht. Vielleicht hatte sie auch nicht die Kraft dazu.
Sie wollte sich vom Spiegel abwenden, als sie aus dem Augenwinkel die huschende Bewegung sah. Für einen winzigen Moment zeichnete sich etwas auf der Spiegelfläche ab.
Das war nicht sie, sondern ein anderes Gesicht. Verzerrt, als wäre es aus mehreren Streifen und Blitzen erstellt worden.
Das Gesicht ihrer Freundin Mandy Alwood!
Fassen konnte Iris es nicht. Sie glaubte an eine Täuschung, schüttelte den Kopf, aber das Gesicht war dagewesen. Es hatte wie in die helle Fläche eingeritzt ausgesehen. Nun war es wieder weg. Iris sah sich selbst.
»Das ist doch nicht wahr!« flüsterte sie. »Da kann man ja verrückt werden. Was bilde ich mir überhaupt ein?« Es kostete sie schon Überwindung, näher an den Spiegel heranzutreten. Mit der rechten Hand strich sie über die Fläche hinweg. Sie wollte herausfinden, ob dieses Gesicht Einkerbungen hinterlassen hatte. Eine verrückte Idee, aber sie wußte sich nicht anders zu helfen.
Nein – nichts.
Gar nichts.
Der Spiegel war glatt. Er war wie immer. Kein Gesicht mehr, auch kein Schmerz.
Langsam zog Iris die Hand zurück. Sie dachte nach, die Stirn gekraust.
Etwas stimmte hier nicht. Zuerst dieser Schmerz, der durch ihren Kopf geschnitten war, dann das Gesicht.
Obwohl es keine logische Erklärung gab, glaubte Iris, daß beides in einem Zusammenhang stand. Nein, sie war davon überzeugt, und das Gesicht der Freundin, das sich nur für einen Moment gezeigt hatte und so schrecklich verzerrt gewesen war, mußte auch etwas zu bedeuten haben.
Eine Warnung? Oder ein Abschied?
Über den zweiten Begriff machte sie sich mehr Sorgen. Abschied, das konnte auch bedeuten, daß Mandy…
Nein, so weit wollte sie nicht denken. Sie und ihre Freundin hatten sich verabredet. Und diese Verabredung würde sie auch einhalten, das mußte sie jetzt einfach tun, denn etwas braute sich da zusammen.
Davon war sie überzeugt.
Es hing möglicherweise mit Mandys Experimenten zusammen, die sie durchführte. Es war ja nicht normal, daß jemand mit den Toten sprach.
So etwas durfte nicht passieren. Diesseits blieb Diesseits und Jenseits eben Jenseits.
Mit einem sehr unguten Gefühl verließ sie das kleine Bad. In ihrem Wohn- und Schlafraum atmete sie tief durch. An einer Wand stand ein kleiner Schrank aus Kiefernholz. Er war aber groß genug, um die Kleidung der Bewohnerin aufnehmen zu können.
Iris hatte sehr schnell gefunden, was sie suchte. Die helle Hose, ein dünnes T-Shirt in dunkelroter Farbe, das sehr locker fiel. Außerdem fand sie es furchtbar warm in der Wohnung, deshalb ging sie zum Fenster und öffnete es.
Iris schaute hinaus und mußte feststellen, daß keine Zauberfee erschienen war, um den grauen Anblick und die trübe Aussicht zu nehmen. Es war ein seltsamer Tag. Einer, den man nicht richtig einordnen konnte. Durch eine Wolkendecke düster gemacht, aber er war nicht kühl. Von irgendwoher kam schon Wärme, und die wiederum breitete sich über der Stadt aus und sorgte für eine unangenehme Schwüle.
Im Winter wäre sie an einem derartigen Tag im Bett geblieben.
Das Haus hier stand allein. Es paßte überhaupt nicht in das umliegende Industrieviertel. Als hätte man es hineingestellt und vergessen, aber dem war nicht so. Zuerst war das Haus gebaut worden. Man hatte noch mehr dieser Hochhäuser hier hinsetzen wollen, aber das hatte nicht geklappt.
Da waren die Kosten abgedüst, und so war das Gelände anderweitig genutzt worden.
Zumindest konnte sie von ihrem Fenster aus den Fluß sehen. Er wälzte sich grau und träge durch sein Bett in Richtung Meer.
Iris schloß das Fenster wieder. Plötzlich fror sie. Komisch, dachte sie, ich bin doch nicht krank.
»Iris!«
Die Hände der Frau, die soeben noch die Schultern gerieben hatten, fielen nach unten. Stocksteif blieb Iris Cramer stehen. Sie hielt den Atem an, denn sie hatte etwas gehört.
Einen Ruf!
Ihren Namen!
Nicht von draußen, sondern aus der kleinen Wohnung, als hätte sich darin jemand versteckt.
Iris wollte rufen, fragen, aber sie traute sich nicht. Der Schock über das Erlebte saß einfach zu tief in
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