Süße Teilchen: Roman (German Edition)
dass jemand wie ich an Dysphorie und Dysmorphie leiden könnte. Keine Ahnung, was das sein soll, aber Dyslexie habe ich wenigstens nicht. Am liebsten läse ich Anna Karenina oder Catch 22 oder etwas von Lorrie Moore, irgendetwas, das mich berührt oder brillant oder einfach nur lustig ist, denn das würde mich ablenken. Stattdessen lese ich die Ratgeber, die Laura mir gebracht hat, als es am schlimmsten um mich stand.
Dabei weiß ich auch ohne Ratgeber, dass ich mein Leben wieder auf die Reihe bekommen muss. Ich kann nicht ewig Tabletten schlucken. Seit drei Wochen bin ich nicht mehr zur Arbeit gegangen. Ich habe mich bei Devron per SMS entschuldigt und erklärt, es ginge mir nicht so gut, ich würde mich aber wieder melden. Als Antwort schrieb er: »Janelle wird Ihnen die nötigen Formulare schicken. Ich bräuchte Ihre Gewinnprognose für das zweite Halbjahr.«
Seit zwei Wochen lese ich sehr viel.
Inzwischen weiß ich, was Freud, Jung und David Lynch von transzendentaler Meditation halten. Man kann mich über kognitive Verhaltenstherapie, NLP, EST, EFT und Yoga ausfragen, über die Macht des Atems, die Macht des positiven Denkens, die Macht, nein zu sagen, und die Macht des Augenblicks. Ich habe etwas über schwarze Hunde und weiße Ritter gelernt. Und was noch? Ach ja, einmal ging es um »geschicktes und ungeschicktes Verhalten«. Ich weiß, was Veränderungskurven, Trauerzyklen, Kübler-Ross, Transferenz, Projektion und Objektbeziehungen sind, habe über Serotonin und Dopamin gelesen, über Liebessüchtige, Liebesgegner, Sadisten, Masochisten, Beziehungsängste, Dramadreiecke, Validierung, Frauen, die zu viel lieben, Männer, die zu wenig lieben, Introvertierte, Extrovertierte und Perverse.
Was sagst du dazu, James? Ich bin klüger als je zuvor – oder auch nicht.
Zusammengefasst bin ich zu folgendem Ergebnis gekommen:
Wer die große Liebe sucht, fängt am besten bei sich selbst an. Verflixt, Whitney Houston hatte doch recht.
Jeder ist auf sich allein gestellt. Dabei denke ich nicht an »jeder stirbt allein«, sondern daran, dass man für sein Leben selbst verantwortlich ist. Depressionen sind bestenfalls Ausweichmanöver.
Jeder muss selbst darauf achten, dass er glücklich wird, und er muss lernen, mit dem, was das Leben bringt, fertigzuwerden.
Wenn man das erkannt hat, ist man erwachsen.
Klingt ziemlich hart, oder?
Ich bin eine Vierunddreißigjährige, die weder in Museen noch in Galerien gehen will. Ich möchte weder einem Lesezirkel beitreten noch anfangen zu stricken oder Abenteuerurlaub machen, ich will keine neuen Freunde kennenlernen, keine Onlinebeziehungen eingehen oder den weniger Glücklichen in meiner Gemeinde helfen. Ich will nur in meiner Wohnung sitzen und mich vollfressen.
Aber stattdessen rufe ich Devron an, teile ihm mit, dass ich am Montag wiederkomme und man mir für die Tage meiner Abwesenheit kein Gehalt zahlen müsse, denn ich betrachte sie als unbezahlten Urlaub.
Am Sonntagabend versuche ich die Müllhalde, in der ich lebe, wieder zu einer Wohnung zu machen. Dabei werde ich von einem Karton voller Fotos abgelenkt, in dem ich anfange zu kramen.
Oh, hier ist eins vom letzten August. Darauf halten meine Großmutter und Evie den Laptop hoch, auf dessen Bildschirm mein Bruder und sein Baby zu erkennen sind. Der Blick meiner Großmutter ist voller Freude und Staunen, ihr Gesicht sieht wunderschön aus.
Und da ist eins, das mein Bruder aufgenommen haben muss. Es zeigt meine Eltern und mich – da dürfte ich etwa vier Jahre alt gewesen sein. Ich sitze auf dem Schoß meines Vaters, wir sind in einer Eisdiele in Camden Town. Auf dem Tisch steht ein Eisbecher, der mich sehr klein wirken lässt. Mein Mund ist mit Schokoladensoße verschmiert, und ich strahle über das ganze Gesicht. Mein Dad hat einen Arm um meine Mutter gelegt. Damals wird sie so alt gewesen sein wie ich jetzt. Ihre Haare sind lang, und sie hat sie mit einer Spange zurückgesteckt, die aussieht wie ein Schmetterling. Das Gesicht, auf dem ein verträumtes Lächeln liegt, wendet sie meinem Vater zu.
Ach, und da ist ein Foto von Nick. Er hält einen Teller in den Händen, auf dem Spaghetti mit Tomatensoße und Fleischklößchen zu sehen sind, in denen eine Kerze steckt. Das war sein Überraschungsfrühstück für mich an meinem dreißigsten Geburtstag. Vier Mal hatte er meine Großmutter zu Kaffee und Kuchen eingeladen, um ihr das Rezept für die Tomatensoße abzuluchsen. Das Wichtigste dabei ist jede Menge Butter.
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