Süße Teilchen: Roman (German Edition)
gönnte sie sich einen Schokoladenkeks. Diese Frau habe ich nicht ein einziges Mal lachen sehen.
»Ich habe überhaupt keinen Hunger«, verkündet Go-Go, als wir uns zum Mittagessen niederlassen, das aus je zwei Haferkeksen und einer kleinen Schale Guacamole besteht.
»Mein Appetit ist schon auf null«, sagt Sephonie.
»Ich kann das nicht einmal mehr aufessen«, erklärt Hildegunn.
Ihr seid doch völlig beknackt, geht es mir durch den Kopf. Ich denke seit meiner Ankunft nur ans Essen.
Hildegunn bietet mir einen halben Haferkeks an, den ich gierig verschlinge.
Am Nachmittag brechen wir zu einer vierstündigen Bergwanderung auf. Das ist der Teil, der mir am Trainingslager gefällt. Man sieht was von der Landschaft und muss sich keinen Schwachsinn über die schädliche Wirkung von Brokkoli anhören. Ich lasse die anderen vorauslaufen und denke über etwas nach, das meine ehemalige Therapeutin gesagt hat. Sie war der Ansicht, dass ein traumatisches Erlebnis wie eine Trennung ungelöste Probleme zum Vorschein bringt, die dann zu Depressionen führen können. Meine Gedanken wandern zu meinem Job. Bei Fletchers zu arbeiten ist keineswegs die Hölle. Als ich meinen Zusammenbruch hatte, hat man mir eine Auszeit zugestanden. Und doch möchte ich dort nicht bleiben, solange Devron am Ruder ist. Ich bin gut in meinem Job, auch wenn ich das beinah vergessen hätte. Es gibt mit Sicherheit irgendwo einen besseren Arbeitsplatz für mich.
Wir haben den Gipfel des Berges erreicht und dürfen unser winziges Stückchen Schokolade verzehren. Ich hole es aus dem Rucksack, schlage die Silberfolie auseinander und knabbere so vorsichtig daran herum, als hätte ich ein Gebiss. Zwanzig Minuten brauche ich, um es aufzuessen. Von wegen Nimmersatt. Doch mit Selbstbeherrschung hat das nichts zu tun. Selbstbeherrschung bedeutet, dass man wählen kann. Was wäre, wenn ich die Wahl hätte, statt des kleinen Stückchens eine ganze Tafel Schokolade zu essen? Wetten, dass ich mich sofort darüber hermachen würde?
Auf dem Rückweg kommen wir an einem Fluss vorbei. »Los, Mädels«, sagt Big Tony. »Springt rein.«
»Ich habe keine Badesachen dabei«, sage ich abwehrend.
»Spring angezogen rein.«
»Dann werden meine Sachen nass und ich friere auf dem Rückweg.«
Hildegunn ist in Unterhose in den Fluss gehüpft und planscht darin herum. »Wunderbar«, ruft sie.
Go-Go, die nie eine zweite Aufforderung braucht, springt in den Fluss.
Sephonie weigert sich. »Meinen Adidas-Anzug hat Stella McCartney entworfen. Den darf man nur reinigen.«
Ich ziehe Shorts und T-Shirt aus und wate ins Wasser. Es ist eisig, aber nach einer Minute gewöhnt man sich daran, und mein geschwollenes Knie freut sich.
Noch vor Kurzem hätten mich keine zehn Pferde in den Fluss gebracht. Ich bin stolz auf mich.
Erschöpft machen wir uns auf den Weg zum Abendessen.
»Hm«, macht Hildegunn. »Es riecht nach was Gutem.«
»Ich finde, es riecht nach sehr wenig«, antworte ich und behalte recht. Diesmal gibt es zwei Bissen Lammragout, vierzehn rote Bohnen, ein Sträußchen Brokkoli.
Ausnahmsweise erhalten wir jeder ein Dessert in Form einer halben Orange. Eins muss man dieser Farm zugutehalten: Man ist hier schon nach kürzester Zeit selbst für die kleinen Dinge des Lebens dankbar. Zum Beispiel für eine halbe Orange, die so köstlich schmeckt, dass ich vor Glück weinen könnte.
Da es in meinem Zimmer noch nach Erbrochenem riecht, schlafe ich wieder auf dem unbequemen Sofa und träume, dass ich ein einfaches Sandwich esse, aus gewöhnlichem Weißbrot, mit Butter, Schinken und einem Hauch Senf.
Dritter Tag im Trainingslager. Zweiergruppen.
Sephonie erscheint wieder zu spät, diesmal im roten Jogginganzug von Juicy Couture, mit Kopfhörern und iPod.
»Zwanzig Minuten Verspätung«, ruft Big Tony. »Das sind für jede vierzig Liegestütze.«
Go-Go ist im siebten Himmel und macht fünfundvierzig. Hildegunn und ich sehen uns an. Ich frage Sephonie, ob ich ihr meinen Wecker leihen soll.
»Mein iPod weckt mich«, erwidert sie. »Ich brauche eben Zeit für mich.«
»Und was machst du in der Zeit?«
Sie zuckt mit den Schultern. Die Geste erinnert mich an James.
Man hat uns erklärt, dass wir am dritten Tag »leicht emotional« werden könnten. Nach den Wochen, die ich hinter mir habe, dürfte »leicht emotional« ein Klacks für mich sein.
Das Frühstück besteht aus Haferbrei mit Wasser und ist ungenießbar, trotzdem macht die winzige Portion mich wütend.
Mein Knie
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