Süße Teilchen: Roman (German Edition)
In meiner Verzweiflung rufe ich Laura an und schluchze ins Telefon. Sie verspricht mir, dass ich es bald hinter mir habe und wir am Abend meiner Rückkehr ausgehen und ein mittelgroßes Curry-Gericht essen. Ich liebe Laura so sehr.
Vierter Tag im Trainingslager. Gruppenübung.
Heute besteigen wir den nächsten Hügel. Er ist noch höher als die bisherigen. Am Vortag habe ich mir zu viel zugemutet, meine Glieder sind steif und ich kann kaum die Füße heben. Beim Abstieg ist mir, als würden zwei kleine Fäuste in meinem Knie sitzen und boxen. Zuerst hat James meinen Körper abgelehnt, dann habe ich meinen Körper abgelehnt und jetzt lehnt er mich ab.
Wir machen eine Pause, um unser Schokoladenhäppchen zu verzehren. Ich habe meins schon heimlich gegessen, als kleinen Akt sinnloser Rebellion. Ich setze mich auf einen Felsen und sage mir, dass der Name James Stephens für mich eines Tages nur noch eine Buchstabenreihe sein wird. Den Buchstaben wird die Macht fehlen, mir das Herz zusammenzukrampfen. Ich werde den Wirrwarr meiner Gefühle geglättet haben, und James wird langsam zu einem Mann werden, in den ich einmal verliebt war, dann zu einem, mit dem ich ausgegangen bin, schließlich zu einem, der mich mal in einer Bar angesprochen hat, und zu guter Letzt wird er nur noch irgendein Typ sein. Der Tag wird kommen, an dem ich mich wieder so gut fühle wie an dem Tag, bevor wir uns kennenlernten. All das sage ich mir so lange, bis ich es tatsächlich glaube. Gott sei Dank.
Das Mittagessen ist ein Witz, auch wenn keiner lacht. Danach ist der nächste Vortrag an der Reihe. Diesmal lautet das Thema: »Leben, um zu essen kontra essen, um zu leben.« Der Vortragende ist Big Tony. Noch ehe er beginnt, weiß ich, was er sagen wird, und ärgere mich im Voraus.
Big Tony hat Kalorientabellen dabei. Ich sitze auf einem Stuhl, die drei anderen balancieren auf Medizinbällen und machen bei jedem Wort, das er sagt, einen Hüpfer.
»Wer in diesem Raum wiegt sich?«, fragt er.
Wir alle melden uns.
»Wie oft?«
»Zweimal täglich«, antwortet Go-Go. Hildegunn und Sephonie erklären, dass sie sich täglich einmal wiegen. »Nicht so oft«, bekenne ich. »Ich merke es ja, wenn mir ein Rock zu eng ist.«
»Also dann, Folgendes«, sagt Big Tony. »Zum Frühstück esse ich mit Wasser gekochten Haferbrei und Beeren. Mittags Vollkornbrot, Hühnchen und Gemüse. Abends Steak oder Hühnchen, eine mittelgroße Kartoffel und sehr viel Gemüse. Als Snacks nehme ich vormittags einen Joghurt zu mir und um sechzehn Uhr einen Käsewürfel. Samstagabends trinke ich zwei Bier. Einmal in der Woche gönne ich mir ein Curry-Gericht. Daran halte ich mich Woche für Woche, sodass ich übers Essen gar nicht mehr nachdenken muss.«
Aber ich denke gern übers Essen nach.
Ich melde mich zu Wort.
»Ja bitte?«
»Kochst du gern?«, erkundige ich mich.
»Ab und zu. Denkt daran, der Körper ist wie ein Tank. Der eine braucht Kalorien, der andere Benzin.«
Ich hebe wieder meine Hand.
»Kann das nicht warten?«, fragt Big Tony.
»Nein, ich möchte wissen, ob du gern isst?«
»Ich gehöre nicht zu den Menschen, die leben, um zu essen, denn das ist grundverkehrt. Auch ein Tank braucht nur eine Tagesration und Nahrung ist nicht mehr als Benzin.«
Die anderen nicken. In mir kommt mein altes Ich zum Vorschein und lässt sich nicht verjagen.
»Das ist doch Quatsch«, entgegne ich. »Nahrung ist kein Benzin. Nahrung bedeutet Leben, Familie, Geselligkeit, Vergnügen und Zuwendung. Ich kenne einen Laden, in dem es neunzehn Pilzsorten gibt, die sind auch kein Benzin. Man ist, was man isst.«
Big Tony stemmt die Fäuste in die Hüften. Die anderen starren mich an.
»Ich sehe ja ein, dass man sich fit halten muss«, fahre ich fort. »Das bedeutet, dass man gesund bleiben möchte und auf sich achten will. Es bedeutet aber nicht, dass man auf Männer, Frauenzeitschriften und weiß der Kuckuck wen hören soll, die einem weismachen wollen, dass man körperlich unzulänglich sei. Nicht perfekt zu sein, ist völlig in Ordnung. Warum wehren wir uns nicht gegen eine Kultur, die behauptet ›Britney ist zu dick‹ oder ›Lindsay ist zu dünn‹?«
Ich hole Luft und denke daran, dass ich Noushka zum Auslöser meines Zorns und Selbstekels gemacht habe. Wie lange habe ich ihr die Schuld an allem gegeben und vergessen, dass es mit mir und James schon seit einer Weile nicht mehr so gut lief?
»Die Schönheitsindustrie lebt von unserer geringen Selbstachtung«, schließe
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