Süße Teilchen: Roman (German Edition)
offenbar, er müsse aggressiver werden, um sie kleinzukriegen. Kann er vergessen.
Um acht Minuten nach drei gibt er auf und bezeichnet sie als Zimtziege. Sie unterdrückt ein zufriedenes Lächeln.
Jetzt ist noch ein dicker älterer Mann mit sonnenstudiogebräuntem Gesicht vor mir. Er ist offenbar gekommen, um sich zu beschweren, denn er sagt, vor einer Woche, als er eine Stunde habe warten müssen, habe er an seinen brandneuen Porscha eine Reifenkralle bekommen. Ja, er sagt tatsächlich »Porscha«, vielleicht gefällt ihm der Name »Porsche« nicht. Die Beschwerde kann er sich sparen.
Um siebzehn Minuten nach drei gibt auch er sich geschlagen und setzt sich im Wartezimmer auf einen Stuhl.
Ich bin an der Reihe. »Mein Name ist Sophie Klein. Ich habe einen Termin bei Dr. Salter.«
Cerberus konsultiert ihren PC. »Der Termin war um drei.«
»Richtig, aber ich stehe hier ja auch schon seit zwei Minuten vor drei.«
»Wenn Sie noch einmal zu spät kommen, werden Sie nicht mehr drangenommen. Wissen Sie, wie viele Leute sich hier wöchentlich anmelden und dann einfach nicht erscheinen?«
Ich werde mich nicht mit ihr anlegen, dazu bin ich heute nicht imstande.
Im Wartezimmer atme ich tief durch und versuche, mich zu beruhigen. Ich schaue auf die weiße Wand gegenüber. Sofort muss ich an einen verschneiten Abend im letzten November denken. James und ich waren heimlich auf das große flache Dach meines Wohnhauses geschlichen. Jeder hat sich einen Stöpsel meines iPods ins Ohr gesteckt und wir tanzten zu einem Lied von Dean Martin. Zu unseren Füßen lag die stille weiße Stadt. Mittendrin zeigte James nach unten und sagte: »Wir haben Gesellschaft.«
Ich dachte schon, Ben, der Hausmeister, hätte uns auf dem Dach entdeckt, aber als ich nach unten sah, lag ein Fuchs auf James’ weiß gepudertem Wagen und bewegte die Pfoten, als höre er unsere Musik.
Wie heimtückisch Erinnerungen sind, wenn sie einen aus dem Nichts überfallen.
Ich schaue zu dem gebräunten Dicken hinüber. Er wendet sich an eine Frau um die sechzig, die mit uns wartet. Sie trägt eine enge weiße Jeans und ein weißes Poloshirt von Ralph Lauren.
»Ich erkenne Sie wieder«, sagt er zu ihr. »Mein Name ist Stefan. Mir gehört das Juweliergeschäft Zarimkadeh an der High Street.« Er beugt sich vor und stemmt seine behaarten Fäuste auf seine gespreizten Knie.
»Ach richtig«, antwortet sie. »Kurz vor Weihnachten war ich in Ihrem Laden. Da hatten Sie diese himmlischen gelben Brillanten.«
»Wenn Sie das nächste Mal kommen, mache ich Ihnen einen guten Preis. Sie sehen wunderbar aus, wirklich ganz toll.«
»Danke.« Sie streicht über ihr Schlüsselbein. An ihrem Handgelenk klimpern Armreifen.
»Sie achten auf sich«, fährt er fort. »Eine gepflegte Frau.«
Sie nickt energisch.
»Es gibt so viele Frauen, die sich gehen lassen, fett werden – entsetzlich.«
Ich betrachte seine spitzen, gewienerten Cowboystiefel, den dicken Bauch, der über seinen Hermès-Gürtel quillt und das grellrosafarbene Poloshirt von Lacoste spannt. Mein Blick wandert hoch zu der Versace-Sonnenbrille, die er sich in seine steif gesprühten Haare geschoben hat.
»Meine Frau geht jeden Morgen eine Stunde auf den Heimtrainer und schwimmt abends eine Stunde im Pool. Sie hat noch den Körper, den sie mit sechzehn hatte, wirklich ganz phantastisch.«
Eine lange Ehe. Und eine tolerante Ehefrau, denn sonst hätte sie diesen schmierigen Sack schon längst verlassen.
»Wie alt ist Ihre Frau denn jetzt?«, erkundigt sich seine Gesprächspartnerin.
»Fünfundzwanzig«, erwidert Stefan. Ich kichere vor mich hin. Stefan scheint seine Antwort nicht lustig zu finden, denn er wirft mir einen indignierten Blick zu.
Ich werde aufgerufen. Als ich an Stefan vorbeigehe, fallen mir mehrere Dinge ein, die ich zu ihm sagen könnte, zum Beispiel:
»Ihr Laden ist nicht einmal eine Meile von hier entfernt. Wenn Sie die Strecke gelaufen wären, statt mit dem Porsche zu fahren, wären Sie nicht so ein fetter Armleuchter, und eine Reifenkralle hätten Sie auch nicht gekriegt.«
Oder: »Mit sechzig muss man nicht dünn sein, nicht einmal mit sechzehn. Und wie können Sie Fettsack es überhaupt wagen, fette Frauen entsetzlich zu finden?«
Oder auch: »Die sechshundert Pfund für den Hermès-Gürtel hätten Sie sich sparen können, denn unter Ihrer Wampe sieht man den sowieso nicht.«
Oder wie wäre es damit? »Den letzten Möchtegern-Cowboy habe ich 1988 auf der King’s Road
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