Süße Teilchen: Roman (German Edition)
nach Atem ringen und mir sagen, jetzt atme doch einfach aus und ein. Doch dann kommt wieder der Moment, an dem mein Gehirn es nicht schafft, mir den Befehl zum Einatmen zu geben, und alles geht wieder von vorne los. Ich weiß gar nicht, wie oft am Tag ich meine Lunge kurzschließen muss.
Aber ich will mich nicht beklagen, das Weinen hat auch was für sich, denn während einem Tränen übers Gesicht laufen, kann man Folgendes ohne Weiteres tun:
– nach Büroschluss mit den Menschenmassen über die Oxford Street laufen, denn da achtet keiner auf dich
– zu When Tears Go By auf einer Retro-Party tanzen, zu der ein Freund dich mitgeschleppt hat
– sich mit einem Besuch bei einem angesagten Friseur trösten; das ist sogar sehr empfehlenswert, denn wenn der Friseur dich weinen sieht, denkt er, er hat etwas falsch gemacht, offeriert dir einen Gratis-Cappuccino und holt beim Föhnen alles aus sich raus
– bei Zoë im Kühlschrank sitzen und hoffen, dass die Kälte aus deinen Tränen salzige Perlen macht
Und noch einen Silberstreifen gibt es am Wolkenhorizont, denn niemand kann gleichzeitig weinen und essen. Ich esse in den Pausen zwischen den Tränenbächen kleine Power-Snacks, wie Bergsteiger sie zu sich nehmen.
Doch dann zieht eine neue Wolke auf, und die heißt Devron.
Wir haben uns zusammengesetzt, um über einen »Kurswechsel« zu sprechen.
»Na dann«, sagt Devron sachlich, und ich fange an zu weinen, wie jedes Mal, wenn jemand mit mir spricht oder mich berührt. Ich bin wie eine Puppe, die weinen kann, nur dass es bei mir kaum noch aufhört. Unter anderen Formen der Inkontinenz leide ich zum Glück nicht, jedenfalls noch nicht.
»Ah, Ihre Großmutter«, sagt Devron.
»Was?«
»Sie ist ja erst kürzlich gestorben.«
»Ähm, nein, so kürzlich eigentlich nicht. Es liegt an was anderem.«
»Ach.«
Ich schniefe.
»Sonst hätte ich vorgeschlagen, Sie nehmen sich einen halben Tag frei, aus persönlichen Gründen, wenn es denn unbedingt sein muss.«
Jetzt weine ich aus Selbstekel, denn es geht ja nicht um meine Großmutter, sondern um einen Mann.
»Sie müssen ihr sehr nahegestanden haben«, fährt Devron fort.
»Es ist etwas anderes, ich … ich habe mich von meinem … Freund getrennt.« Als »Verlobten« kann ich James nicht bezeichnen, dazu war unsere Verlobungszeit zu kurz.
»War er ein neuer Freund?«
»Nein, wir waren fast ein Jahr lang zusammen.«
»Ach so, also nichts Ernstes.«
Ich setze mich gerade hin. »Wir waren verlobt«, betone ich.
»Er hat Sie doch nicht etwa bei der Trauung versetzt, oder?«
»Nein.«
»Denn dann hätten Sie allen Grund sauer zu sein. Man denke nur an die Peinlichkeit, mein Gott, und dann das ganze Geld, das in die Vorbereitung geflossen ist.«
»Ich glaube, es ist mir einfach ziemlich an die Nieren gegangen.«
»Aber wenigstens waren Sie nicht verheiratet und hatten Kinder oder so.«
Richtig. Mensch, war ich dumm, ich habe ja alles verwechselt. Ich dachte, wir wären vierzehn Jahre lang verheiratet gewesen, hätten zwei Kinder und einen Hund. Danke, dass du mich aufgeklärt hast, Devron, jetzt geht es mir schon viel besser. Richtig super fühle ich mich.
»Ich kriege das schon in den Griff.« Ich ziehe ein Taschentuch hervor und schnäuze mir die Nase. »Meine Arbeit wird darunter nicht leiden.«
»Gut, denn Weinen ist ja nicht gerade professionell, wenn Sie wissen, was ich meine.«
Nicht gerade professionell? Ist mit dem Popelfinger durch einen Probepudding zu fahren etwa professionell? Oder Mandy im Konferenzraum von hinten zu nehmen? In dem Raum ist nämlich eine Überwachungskamera, Devron, und wir haben den Videofilm alle gesehen.
Wieder an meinem Schreibtisch, rufe ich zuerst bei meiner Hausärztin an, sage, es sei ein Notfall, und bitte für später am Tag um einen Termin. Anschließend wähle ich die Nummer einer Therapeutin und mache einen Termin für den nächsten Tag aus.
Bei meiner Hausärztin soll ich um drei Uhr nachmittags erscheinen. Zwei Minuten vor drei bin ich in der Praxis. Um halb fünf muss ich wieder im Büro sein, denn da treffe ich mich mit Will. Aus Erfahrung weiß ich, dass man hier manchmal lange warten muss. Die Sprechstundenhilfe, die ich wegen ihrer Bissigkeit insgeheim nur Cerberus nenne, unterhält sich mit einem Mann. Er bittet darum, als Patient aufgenommen zu werden, die Wohnung seiner Freundin liege gleich um die Ecke. Sie erklärt ihm genüsslich, dass das bei Kassenpatienten so nicht funktioniere. Er denkt
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