Sueße Versuchung
arbeitete sie weiter, dabei immer wieder besorgte Blicke zur Kerze und dieser unheimlichen Figur in der Nische hinüberwerfend. Dieses Mal fletschte das Bildnis imaginäre Zähne zu einem bösartigen Grinsen, und Sophie sah schaudernd gleich wieder weg.
Wieder dieser Luftzug. Die Kerzenflamme begann zu tanzen. Sophie starrte ängstlich darauf. Wenn sie ausging, war sie jetzt schon im Finstern und nicht erst in einer Stunde.
Da waren wieder diese Geräusche. Schritte. Ganz deutlich. Es war, als würden sie aus der Wand hinter ihr kommen. Sophie legte das Ohr an den Fels. War dahinter etwa noch ein Gang? Oder gingen hier doch die Geister verstorbener und getöteter Schmuggler und ihrer Gefangenen umher? Endlos und für alle Zeiten auf der Suche nach Erlösung? Winston war nicht der erste, der von dieser Hawkhurst Gang gesprochen hatte. Auch eine Freundin von Tante Elisabeth hatte ihr einmal davon erzählt. Und Henry hatte sie ohnehin vor Gespenstern gewarnt. Allerdings waren diejenigen in Marian Manor sehr lebendig gewesen.
Ein stärkeres Frösteln ging durch Sophies Körper. Ihr Kopf ruckte herum, als das Geräusch direkt von der in den Stein gemeißelten Gestalt zu kommen schien. Ein hohles Lachen, ein Wimmern, das in ein lang gezogenes Stöhnen überging. Der Luftzug wurde stärker, das Kerzenlicht flackerte – und erlosch.
Sophie saß im Dunkeln. Sie atmete schnell und heftig, versuchte, während sie mit weit aufgerissenen Augen in die undurchdringliche Finsternis starrte, ihrer Panik Herr zu werden. War dort, am Ende des Ganges, nicht ein Licht? Jetzt wünschte sie fast, die Schmuggler kämen zurück. Ein schwacher Schein erschien, tanzte wie ein Irrlicht über die Wände, verschwand wieder. Sie wollte sich so drehen, dass sie dem Licht oder Gespenst oder was immer dort kam, entgegensehen konnte, aber dann hätte sie der Figur in der Nische den Rücken zukehren müssen, und das wagte sie nicht.
Sophie zitterte am ganzen Körper. Ein Rasseln wie mit Ketten wurde hörbar. Jemand keuchte so laut, dass ihre Ohren dröhnten. Sophie hielt den Atem an und erkannte, dass dieses Geräusch von ihr selbst gekommen war. Die Angst hatte sie hecheln lassen wie einen Hund. Sie schloss für einige Sekunden die Augen, rang um Beherrschung und atmete einige Male tief und langsam durch. Wichtig war immer noch, dass sie die Fesseln los wurde. Vielleicht war der Lichtschein nur von einem der Schmuggler gewesen, der durch die Höhlen ging. Das Wimmern konnte von einem weiteren Gefangen sein. Nicht sehr erbaulich dieser Gedanke, aber sich jetzt der Hysterie hinzugeben, war dumm und einer McIntosh nicht würdig.
Sie und Patrick hatten sich damals, als das Bergwerk über ihnen zusammenstürzte, in keiner viel besseren Lage befunden. Sie versuchte sich daran zu erinnern, um sich klarzumachen, dass sie jetzt – von den blutrünstigen Männern und Gespenstern abgesehen – noch besser dran war als damals. Sie steckte zwar in einem Labyrinth aus Gängen, aber wenn sie lange genug suchte, konnte sie den Ausgang finden. Auch ohne Kerze. Irgendwie. Patrick und sie waren damals eingeschlossen gewesen, ständig in Gefahr, von den nachrutschenden Gesteinsmassen erschlagen oder erstickt zu werden.
Aber sie waren gerettet worden. Und vielleicht kam auch dieses Mal jemand zu ihrer Hilfe. Edward würde sie suchen. Ganz bestimmt sogar. Sie dachte mit unbeschreiblicher Sehnsucht an ihn und wurde sich bewusst, dass der Gedanke an ihn die ganze Zeit schon in ihrem Hinterkopf gewesen war, sie ihn jedoch immer verdrängt hatte. Es tat weh, an ihn zu denken. Daran, dass sie vielleicht sterben und ihn nie wieder sehen würde. Sie hatte ihn zwar im Zorn verlassen, aber nun war sie geradezu versessen darauf, hier wieder herauszukommen und in seine Arme zu eilen.
Ihn zu halten und sich von ihm halten lassen. Ein trockenes Schluchzen entrang sich ihr, aber dann hatte sie sich wieder in der Gewalt. Nur mutige Frauen kamen hier wieder heraus. Heulsusen verhungerten. Oder wurden von Gespenstern gefressen.
Wieder dieses Geräusch. Stimmen, von überall her, als würden die Felsen zu ihr sprechen. Sie schauderte, riss verzweifelt an den Fesseln. Der Stein hatte die Stricke zumindest schon ein wenig aufgeraut.
Ein lang gezogenes Stöhnen und kalte Luft drangen zu ihr, ließen sie noch mehr frieren. Und dann war das Licht am Ende des Ganges wieder da. Es flackerte, erlosch.
Flackerte wieder auf. Schritte wurden lauter.
Das Licht kam näher. Sie starrte
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