Sueße Versuchung
Meter freie Grasfläche. Wenn es zu stürmisch war, ritt Sophie lieber auf dem Karrenweg hinter den Sträuchern, dem sich Felder anschlossen, aber heute war es sicher, den Weg entlang den Klippen zu nehmen. Der Wind hatte in den letzten Minuten den Regen endgültig vertrieben, es wurde stiller, und der Blick auf das bewegte Meer und die dunklen Wolken in der Ferne war zu schön, um nicht genossen zu werden, wann immer sich die Gelegenheit bot.
An diesem Morgen war Sophies Aufmerksamkeit jedoch geteilt. »Weißt du, was ich glaube«, sagte sie zu Rosalind, die ihre Ohren nach hinten drehte. »Ich glaube, er hat deshalb mit Augusta geflirtet, weil er gesehen hat, wie böse sie auf mich war.« Sie war am Vorabend irritiert gewesen, aber nun, wenn sie im frischen Morgenwind darüber nachdachte, wurde ihr klar, dass Lord Edward ihr mit diesen drei Tänzen etliche gehässige Bemerkungen von ihrer Cousine und ihrer Tante erspart hatte. Die paar, die sie noch in ihre Richtung abgeschossen hatten, waren schon beleidigend genug gewesen. »Aber das hat mich nicht gestört«, erklärte sie Rosalind. »Sie haben mich nicht mehr kränken können. Du hättest mich sehen sollen, Rosalind! Wirklich! Ich habe nicht schlecht getanzt. Vater wäre zufrieden gewesen. Und es hat unglaublichen Spaß gemacht!« Sie summte die Melodie, und ihre Beine zuckten vor Lust, abermals zu tanzen.
Sie war kurz vor der Abzweigung, als sie plötzlich etwas vor sich erblickte, das sie anhalten ließ. Sie kniff die Augen zusammen, um schärfer sehen zu können. Ein Reiter auf einem Rappen hielt von dem rechts zwischen den Ginstersträuchern verlaufenden Weg, den auch Sophie einschlagen musste, auf die Klippen zu. Sie setzte sich überrascht im Sattel auf, als sie den Mann erkannte. Lord Edward!
Zuerst wollte sie Rosalind antreiben, um ihm einen Guten Morgen zu wünschen, aber dann bemerkte sie, dass Lord Edward ungewöhnlich rasch unterwegs war. Sie blieb stehen und verfolgte neugierig seinen Weg. Das war nicht der forsche Galopp eines Reiters, der die Schnelligkeit seines Pferdes genoss. Entweder war das Pferd mit ihm durchgegangen oder … Sie suchte mit den Augen die Richtung ab, die er einhielt. Wo die Ginstersträucher endeten und die Wiese begann, bewegte sich etwas. Dort lief ein Mensch! Sophies Stute machte einige schnelle Schritte in die Richtung, und Sophie ließ sie gewähren – schon aus Neugier. Der Verfolgte musste eine Frau sein. Langes, schwarzes Haar wehte beim Laufen hinter ihr her. Sophie sah genauer hin und erstarrte.
Die Frau war nackt!
Und Lord Edward verfolgte sie! Das war jetzt ganz eindeutig! Was um alles in der Welt war mit ihm los? War er verrückt geworden? Hatte er die Frau überfallen, und sie war vor ihm geflüchtet? Eine unangenehme Erinnerung an das Treffen bei Marian Manor stieg in ihr hoch.
Die Frau lief schneller auf die Klippen zu. Entweder bemerkte die Fremde die Gefahr nicht, oder sie wollte sich aus Angst vor Lord Edward hinunterstürzen. Ohne nachzudenken gab Sophie ihrer Stute die Zügel frei und stieß ihr die Fersen in die Weichen. Es war jedoch gar nicht nötig, Rosalind anzutreiben, die hatte längst das wild galoppierende Pferd von Lord Edward entdeckt und streckte sich schon aus Freude am Rennen.
Nur noch wenige Meter trennten die Frau vom Abgrund. Sophie schrie, aber der Wind trug ihre Warnung davon. Und dann flog auch schon Harringtons Rappe heran und schnitt der Schwarzhaarigen den Weg ab. Sophie ächzte, als sie sah, wie knapp die Hufe seines Pferdes an den Abgrund kamen. Der Rand der Klippen war nicht sicher, immer wieder stürzten dort an der höchsten Stelle ganze Brocken mit Erde und Gras über einhundertsechzig Meter tief ins Meer ab.
Während er sein Pferd wieder herumriss und von der Gefahr wegdrängte, beugte sich Lord Edward hinab und griff nach der Frau. Die schrie auf, wehrte sich, taumelte, aber bevor sie stürzte, hatte er sie um die Taille gefasst und zog sie hoch. Erde und kleine Rasenstücke wurden aufgewirbelt, flogen hoch in die Luft über den Rand der Klippen.
Aber da waren Harrington und die Frau schon in Sicherheit.
Ein paar weitere Sprünge, weg vom Abgrund, und dann stand der Rappe still.
Sophie merkte jetzt erst, dass sie den Atem angehalten und die Finger um ihre Zügel verkrampft hatte. Eine unglaubliche Meisterleistung! Sophie war trotz des Schreckens und der darauffolgenden Erleichterung fasziniert. Es gab nur wenige Reiter, die so sicher im Sattel saßen und ihr
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