Sueße Versuchung
Kutsche. Sein Diener schlug die Tür zu, und sie fuhren ab.
Jonathan blieb noch eine Weile auf der obersten Treppenstufe stehen, blickte dem Wagen nach und grinste breit.
Als er sich umwandte, sah er sich dem erstaunten Blick des hageren Mannes im dunklen Anzug ausgesetzt. Jonathan zuckte mit den Schultern. Der Mann schüttelte den Kopf und ging langsam die Treppe hinunter.
* * *
»Verlobte?« Sophie hatte sich noch nicht von dem Schock erholt, als sie schon längst auf dem Heimweg waren. Sie saß Lord Edward gegenüber und genoss trotz des überstandenen Schreckens den Luxus der weichen Polster und einer gut gefederten Kutsche. »Nicht, dass ich Ihnen für die Rettung nicht dankbar wäre – aber wie konnten Sie mich nur als Ihre Verlobte ausgeben?! Und das vor allen Leuten!« Sie war zutiefst erleichtert, dass er sie vor diesen Menschen gerettet hatte, aber sie deshalb gleich als seine Braut auszugeben war absurd.
»Damit beantworten Sie sich Ihre Frage selbst«, erwiderte Lord Edward scharf. »
Vor
allen Leuten
. Wäre nicht die halbe Nachbarschaft Ihrer Tante anwesend gewesen, hätte ich nicht zu so drastischen Mitteln greifen müssen, um Sie halbwegs unbeschadet von dort herauszubringen.«
»Die halbe Nachbarschaft?« Sophie war entsetzt. Also hatte Captain Hendricks nicht übertrieben. Wenn Lord Edward dies ebenfalls behauptete, dann musste es die Wahrheit sein. »Aber wie kann das denn sein? Sie meinen, da sind wirklich so viele seriöse Leute dabei? Bei einer Veranstaltung dieser Art ? Und noch dazu bei Captain Hendricks?!« Einem Schmuggler! Auch wenn sie dies im Moment nicht laut aussprach.
»Captain Hendricks Festlichkeiten sind in der Gegend bekannt. Man sagt, dass sogar der Prinzregent schon inkognito anwesend war. Und allzu viel Abwechslung dieser Art bietet Eastbourne ja nicht gerade.«
»Der Prinzregent?!« Sophie war erschüttert. Offenbar war Captains Hendricks Ruf hier besser als er es verdient hatte. Oder die anderen waren so schlecht. Aber sogar der Prinzregent? Ja, wusste denn wirklich niemand, wer Jonathan Hendricks wirklich war?
Ein Schmuggler? Ein Pirat?!
Ihr Blick fiel auf Lord Edwards unnahbare, von der kleinen Laterne im Inneren der Kutsche beleuchtete Miene. Ihre Gedanken überschlugen sich, wie so oft in der letzten Zeit. Captain Hendricks hatte also nicht gelogen, als er ihr erzählt hatte, dass Lord Edward ebenfalls Gast in seinem Haus war. Ihr Verdacht, dass dieser – auf welche Art auch immer – mit den Schmugglern zu tun hatte, wurde damit bestätigt. Es war ein Gedanke, der ihr die Kehle zusammenschnürte. Und noch schlimmer wurde es, als ihr klar wurde, dass er sich auf ebensolche Weise mit den willigen Damen dort vergnügte wie die anderen Männer. Das Bild von Tante Elisabeths Nachbarn mit der schaukelnden jungen Frau auf seinem Unterleib stieg in ihr hoch und machte sie wütend.
»Ich hätte Ihnen dank meiner einschlägigen Erfahrungen mit Ihnen ja viel zugetraut«, sagte sie grimmig, »aber dass Sie sich bei solchen Veranstaltungen aufhalten, hat jetzt sogar mich überrascht.« Es war ungerecht, er hatte sie ja vor den anderen gerettet, aber sie war so enttäuscht, dass sie ihn am liebsten geschlagen hätte.
»In der Tat?« Er zog auf diese kühle, mokante Art die Augenbrauen hoch und betrachtete sie von oben bis unten. »Dann waren wir also beide sehr überrascht. Ich hätte Sie dort nämlich auch nicht gerade vermutet.«
Sophie biss sich auf die Lippe. Daran hatte sie nicht gedacht. Sie hatte bis zu diesem Moment als selbstverständlich angenommen, dass er wusste, wer unter dieser Haube steckte, und ihr zu Hilfe geeilt war. »Das heißt, Sie wussten gar nicht, dass ich es war?
Natürlich nicht! Woher sollten Sie auch!« Wie einfältig sie doch war! Lord Edward – ebenfalls Gast – hatte sich diese ebenso blinde wie dumme Kuh geschnappt und war sicherlich enttäuscht gewesen, dann sie unter der schwarzen Kapuze zu sehen.
Zweifellos hatte er eine andere erhofft. Eine, mit der er sich, Jonathans Vorschlag folgend, in ein Zimmer zurückgezogen hätte. Und dann riss sich seine Beute den Sack vom Kopf und entpuppte sich als Sophie McIntosh! Aber warum tat diese Erkenntnis nur so lächerlich weh?
»Seien Sie keine Närrin.« Lord Edwards Stimme verlor zum ersten Mal den kalten Beiklang und ein vertrauter, amüsierter Unterton schwang darin mit. »Natürlich wusste ich, dass Sie es sind. Ich hatte Sie schon erkannt, als Sie an der Rückseite von Henrys Kutsche
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