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Süßer König Jesus (German Edition)

Süßer König Jesus (German Edition)

Titel: Süßer König Jesus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Miller
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könntest du.«
    »Du glaubst mir nicht«, sagte er.
    »Du kannst alles, wenn du nur willst«, sagte sie in jenem fröhlichen Ton, der sein Misstrauen nur bestätigte.
    »Ich glaube, du kannst es schaffen«, sagte ich.
    »Ich auch«, sagte Elise. »Du bist der sturste Mensch, den wir kennen.«
    Er gluckste in sich hinein und stach mit der Nadel zu und sagte, möglicherweise werde er sich nicht mehr oft spritzen müssen. Dann neigte er den Kopf. »Dank sei dir, Herr«, sagte er. »Dies sind einfache Worte, aber sie kommen aus einfachen Herzen, erfüllt vom Bewusstsein deiner Güte. Wir bitten dich, segne uns, wenn wir essen, segne unser Mahl, segne die Hände, die es bereitet haben. Lass unsere Worte aus dankbaren Herzen über unsere Lippen kommen, und lass uns jene segnen, um die wir heute werben werden.« Er hielt inne, und wir warteten darauf, dass er weiterspreche, noch etwas sage. »Dank sei dir für unsere Familie«, sagte er. Wieder Pause, und dann sagte er: »Amen.«
    »Dank sei dir für unsere Familie«, wiederholte unsere Mutter.
    Ich legte einen einzigen Pfannkuchen auf meinen Teller und ein Stück Bacon.
    Elise schaltete auf The Price is Right, und während wir aßen, verfolgten wir die Sendung. Im Showcase Showdown gewann eine Frau eine Weltreise. Ihre Freunde stürzten auf die Bühne und wuselten um sie herum, schauten sich die Fotos der Orte an, an die sie reisen würde. Und es kam noch besser. Sie quetschten sich alle in einen einzigen Wagen und winkten durch die Fenster. Vielleicht durften sie ja wirklich in diesem Wagen durch die Gegend gondeln, aber um die Welt reisten sie damit ganz sicher nicht. Ich dachte an den staubigen Flohmarkt mit der traurigsten Lady, die ich je gesehen hatte, an das Kamel auf dem Parkplatz vor dem Ein-Dollar-Laden, an den alten Mann, der seinen Rasenmäher über den Highway schob. Alles Dinge, die ich in Montgomery nie gesehen hätte. Ich überlegte, ob das Las-Vegas-Mädchen es bis Las Vegas geschafft hatte. Hoffentlich, und hoffentlich war ihr Leben dort besser. Ich stellte mir vor, dass sie den Hund behalten, ihn in letzter Minute noch zu sich gerufen hatte.
    Und dann fing The Young and the Restless an, und ich stellte Fragen, versuchte rauszufinden, wer inzwischen mit wem ging und was Sache war. Ich hatte es abends immer mit meiner Mutter gesehen, doch irgendwann im letzten Jahr hatte ich das Interesse verloren.
    Wir waren mit dem Essen fertig, aber keiner stand auf. Wenn wir erst mal in Gang kämen, müssten wir dranbleiben. Wir müssten in unser Auto steigen und nach Hause fahren, und es würde sich anfühlen, als wären wir gescheitert. Im Moment aber fühlte sich nichts gescheitert an. Es fühlte sich an, als sei noch alles Mögliche möglich.
    »Isst du das noch?«, fragte ich meine Mutter.
    Sie reichte mir ihr letztes Stück Bacon, weich und labberig, wie eben Bacon im Restaurant.
    »Gib mir die Hälfte«, sagte Elise.
    Ich gab ihr das ganze Stück, und sie aß es, als hätte sie nie aufgehört, Fleisch zu essen. Und auf einmal war sie dann keine Vegetarierin mehr. Seltsam, wie man erst etwas sein konnte und es dann, einfach so, auch nicht mehr sein konnte. Gestern Abend war ich Jungfrau gewesen. Elise Vegetarierin. Etwas anderes schien gestern Abend noch völlig unmöglich. Ich fasste ein übrig gebliebenes Brötchen ins Auge, ein ungeöffnetes Döschen Jelly. Ich nahm das Döschen und zog den dünnen schwarzen Streifen ab, der besagte, dass noch keiner dran herumgepfuscht hatte, nahm einen sauberen Löffel und hielt ihn mir vors Gesicht.

Nachwort
    Verkritzelt und vernetzt
    Mary Miller gehört zu einer jungen Generation amerikanischer Schriftstellerinnen, die ihre Wahrnehmung an den Extremen geschärft hat: einerseits am schönen Schein der Warenwirklichkeit, wie sie z.B. in Gestalt der Werbung an jenen vorüberfährt, die sich ununterbrochen »vorwärts« bewegen, und andererseits am dunklen Spiegel der Kehrseite dieser pilzartigen Vernetzungs-Surrealität: an der Literatur. Eine Literatur, die in ihren hellen Momenten die alten Mythen zu epischen Logos destilliert und die Mythen der Moderne in der Linearität des Erzählens zu verdichten vermag.
    Auf dieser andauernden Linie der Interstates und Highways die menschlichen Kreuzungen (die Begegnungen auf Raststätten und Tankstellen, in Motels und Restaurants, vor all den begleiterscheinenden Drogerien und Einkaufsmärkten) als intime Momente darstellen zu können, ist eine der Leistungen Mary Millers. Eine

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