Süßer Tod
weiteren Tag eingesperrt in ihrem Haus verbringen und tatenlos darauf warten musste, dass etwas passierte.
»Nimm dir ein paar Tage frei, Britt«, wiederholte er. »Nimm einfach Urlaub. Bis auf Weiteres.«
Ihr Mund klappte mehrmals auf und zu, bevor sie die Kraft fand, ihn zu fragen: »Heißt das, ich bin gefeuert?«
»Nein! Quatsch, natürlich nicht. Habe ich irgendwas davon gesagt?«
Ich bin nicht blöd. Ich kann zwischen den Zeilen lesen. »Und wie lange soll ich Urlaub nehmen?«
»Bis dieser ganze Mist ausgeräumt ist. Lass uns einfach abwarten, wie sich die Lage in den nächsten Tagen entwickelt. Dann ziehen wir Bilanz.«
Das Schlupfloch, das er sich damit offen hielt, war größer als der Grand Canyon. Plötzlich legte er väterliche Güte und Herzlichkeit in seine Stimme und bot ihr die unbegrenzte Hilfe des Senders an, und zwar in jeder erdenklichen Weise. »Natürlich ist es ein bezahlter Urlaub«, versicherte er ihr. Ehe er sich verabschiedete, riet er ihr noch, gut zu essen und Kraft zu tanken.
Hätte er vor ihr gestanden, hätte er ihr bestimmt aufmunternd die Wange getätschelt und dann hastig den Rückzug angetreten.
Kochend vor Wut über seine scheinheilige Reaktion legte sie den Hörer auf. Britt Shelley war in einer kompromittierenden Situation erwischt worden. Hier im Ort war das bestimmt ein paar Schlagzeilen wert. Ihr Sender hätte aus erster Hand berichten und der Nachrichtenredaktion damit einen entscheidenden Vorteil gegenüber der Konkurrenz verschaffen können, woraufhin die Einschaltquoten bestimmt rapide angestiegen wären.
Während sich der Manager des Senders von ihr distanziert hatte, rieb er sich wahrscheinlich klammheimlich die Hände, weil sie einen solchen Aufruhr verursacht hatte. Wenn etwas wirklich Unappetitliches zum Vorschein kommen sollte, würden seine Reporter als Erste bei ihr auf der Matte stehen, um darüber zu berichten, aber gleichzeitig sollte nicht der Schatten eines Zweifels auf seinen Sender fallen.
Sie war nicht nur aufgebracht, sie fühlte sich auch im Stich gelassen. Ohne ihren Sender war sie ganz auf sich allein gestellt und ohne jede Rückendeckung. Sie sah sich in den Abendnachrichten den Zusammenschnitt ihrer Pressekonferenz an und fand, dass ihre Trauer um Jays Tod glaubhaft und ihre Erklärung, sie könne sich nicht erinnern, weil man sie unter Drogen gesetzt hatte, aufrichtig wirkten.
Trotzdem war sie nicht naiv. Die Menschen vermuteten lieber das Schlechteste, als das Beste anzunehmen.
Dann wurde es dunkel, und ihre Stimmung verdüsterte sich. Sie redete sich ein, dass sie Hunger hatte, und wärmte ein Mikrowellengericht auf, von dem sie nicht einmal die Hälfte herunterbrachte. Sie nahm ein langes Bad, ohne wirklich zu entspannen. Immer und immer wieder kehrten ihre Gedanken zu jener Nacht zurück. Schon tausendmal war sie alles durchgegangen, von dem Augenblick an, in dem sie das Wheelhouse betreten hatte, bis zu ihrem Erwachen am nächsten Morgen.
In ihrer Erinnerung fehlten mehrere Stunden, in denen alles
Mögliche passiert sein konnte. Sie konnte sich nicht erinnern, mit Jay geschlafen zu haben, aber sie konnte sich auch nicht erinnern, Scotch getrunken zu haben, was sie offensichtlich getan hatte.
Wenn Jay ihr das Mittel nicht untergeschoben hatte, wer dann? Und wozu? Bei den Möglichkeiten wurde ihr übel. Wollte sie sich überhaupt erinnern? Oder war es ein Segen, dass ihr nicht mehr einfallen wollte, was man ihr angetan hatte, nachdem irgendwer sie splitternackt ausgezogen hatte, ohne dass sie sich hatte schützen können?
Sie war zu ihrer Gynäkologin gegangen und hatte sich untersuchen lassen. Sie hatte darauf bestanden, dass die Ärztin für den Fall der Fälle mögliche Spuren einer Vergewaltigung sicherte. Die Ärztin kam ihrer Forderung zwar nach, erklärte aber, während sie mit dem Tupfer DNA-Proben von Britts Mund, ihrer Vagina und ihrem Anus nahm, dass die Chancen, eine Vergewaltigung nachweisen zu können, äußerst gering seien. Sie hatte geduscht. Es war zu viel Zeit verstrichen.
Wenigstens hatte sie erfahren, dass sie nicht zum Sex gezwungen worden war, was bis zu einem gewissen Grad beruhigend war. Sie hatte keine körperlichen Schäden davongetragen.
Aber auch wenn sie nicht sexuell missbraucht worden war, so hatte man sie doch emotional und psychisch vergewaltigt, und da sie sich nicht erinnern und ihre Erinnerungen daher nicht aufarbeiten konnte, wirkte die Gewalt immer noch nach. In der Badewanne sitzend, die
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