Süßer Tod
preisgeben, was er wusste oder vermutete, denn sie hatte nicht vor, ihn schmollend im Wald sitzen zu lassen, während sie sich mit der Polizei, mit Fordyce und McGowan herumschlug.
Nachdem sie den Detectives Javier und Clark ihre Geschichte erzählt hatte, würden die beiden jemanden losschicken, um Raley Gannon aufzuspüren und zur Vernehmung nach Charleston zu bringen. Der Feuerwehrchef würde ebenfalls darauf bestehen,
mit ihm zu reden. Raley wäre gezwungen, alles zu offenbaren, was er wusste, und Britt Shelley wäre an seiner Seite, um die Story live auf die Bildschirme zu bringen.
Jay hatte ihr eine Hammerstory versprochen, und er hatte Wort gehalten. Trotzdem machte es ihr zu schaffen, dass der Charmeur, den sie kennengelernt hatte, und der Betrüger aus Raleys Geschichte ein und derselbe Mann waren. Falls Raley ihr die Wahrheit erzählt hatte, und das glaubte sie, dann hatte Jay das Leben eines Mädchens, seine uralte Freundschaft mit Raley und seine Berufsehre als Polizist geopfert. Er hatte all das zerstört, um das geheim zu halten, was Raley aufzudecken drohte, etwas, das offenbar so schrecklich war, dass Jay es ihr um jeden Preis gestehen wollte, um in Frieden sterben zu können.
Bedauerlicherweise hatte der Killer verhindert, dass Jay sein Gewissen erleichterte.
Tief in ihre Gedanken versunken, merkte Britt erst, dass sie sich verfahren hatte, als die Scheinwerfer das Straßenschild eines winzigen Kaffs erfassten, von dem sie nie gehört hatte und das auch nicht in Raleys Wegbeschreibung auftauchte. Sie lenkte den Wagen an den Straßenrand und studierte seine Aufzeichnungen.
»Doppel gleis?« Die Gleise, nach denen sie links abgebogen war, lagen fünfzehn Meilen hinter ihr. »Wäre nett gewesen, wenn du das unterstrichen hättest, Gannon«, murmelte sie und wendete. Natürlich hatte er »Doppelgleis« geschrieben, sie hatte die Beschreibung nur nicht gründlich genug gelesen. Trotzdem. Dieser Umweg hatte sie viel Zeit gekostet. Bill Alexander würde toben.
Ihre Windschutzscheibe war mit toten Insekten gesprenkelt. Zweimal hatten Scheinwerfer in der Dämmerung die glühenden Topasaugen eines Hirsches erfasst. Zum Glück waren die Hirsche am Straßenrand im Unterholz geblieben und nicht vor ihren Wagen gesprungen. Dennoch war sie danach langsamer gefahren.
Der unfreiwillige Abstecher kostete sie fast eine Stunde. Als
ihr Wagen endlich über die Doppelgleise holperte, verfluchte sie Raley Gannon erneut und bog diesmal richtig ab.
»Eine Viertelmeile fahren, dann auf eine scharfe Rechtskurve achten«, las sie laut von dem Papier ab, das sie jetzt auf Sichthöhe vor dem Lenkrad festhielt, um ja keinen zweiten Fehler zu machen. »Okeydokey. Da wären wir«, sagte sie und bog um die Kurve.
Vor ihr war alles dunkel. Die Bäume zu beiden Seiten hatten ihre Äste zu einem Baldachin verwoben. Die Straße mäanderte durch den Wald und querte dabei Sumpfgebiete und kleine Bäche, die irgendwo in die großen Flüsse mündeten. Sie wollte sich diese wilde Gegend unbedingt genauer ansehen. Das würde sie auf jeden Fall tun.
Falls sie nicht ins Gefängnis musste, dachte sie grimmig.
Ja, ganz eindeutig. Ausflüge in die Natur standen ganz oben auf ihrer Liste. Aber ohne einen Führer würde sie sich keinesfalls in dieses wilde Tiefland wagen. Nicht ohne jemanden, der sich hier auskannte.
Vielleicht mit Raley.
Vielleicht auch nicht. Er konnte sie nicht leiden. Das hatte er ihr gesagt.
Sie zuckte zusammen, als eine Eule oder ein anderer Nachtvogel mit weiter Flügelspanne direkt vor ihrem Kühlergrill über die Fahrbahn schwebte. Dann lachte sie über ihre eigene Schreckhaftigkeit. Aber hatte sie so allein auf einer dunklen Landstraße nicht allen Grund, nervös zu sein?
Ein paar Minuten später freute sie sich tatsächlich, als sie weiter vorn zwei Scheinwerfer sah. Ein Fahrzeug wartete an einer Einmündung darauf, dass sie vorbeifuhr, um dann ebenfalls auf die Straße zu schwenken. Sie war erleichtert, dass es hinter ihr herfuhr. Wenigstens hatte sie jetzt Gesellschaft.
Doch dann wurden die Scheinwerfer in ihrem Rückspiegel immer größer.
Im ersten Moment dachte sie irrational: Raley! Er würde sie nach Charleston begleiten.
Aber dann rief sie sich zur Vernunft. Er käme aus einer anderen Richtung, die Scheinwerfer saßen zu tief für seinen Pick-up, und Raley würde bestimmt nicht so dicht auffahren, dass er praktisch an ihrer Stoßstange hing. Er würde nicht aufblenden und dann das Fernlicht
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