Suesses Gift Der Liebe
wie können Sie das wissen?« Lucinda schlug ihren Schleier bis zur Hutkrempe zurück und sah ihn mit dem Ausdruck höchster Verwunderung an. »Was hat die Atmosphäre in diesem Raum an sich, dass Sie Tod in ihr spüren?«
»Eine bestimmte Art psychischer Bodensatz ist vorhanden, wie ihn böse Kräfte und Gewaltakte zurücklassen.«
»Und die können Sie fühlen?«
»Das ist Teil meines Talents.« Er zog ein Schubfach auf und entnahm ihm einen Papierstapel. »Oder meines Fluchs, wie man es nimmt.«
»Ich verstehe«, sagte sie leise. »Wenn man bedenkt, wie viel Gewalt auf der Welt herrscht, muss es ein sehr belastendes Talent sein.«
Er blickte sie über den Ladentisch hinweg an und fühlte sich gedrängt, ihr die ganze Wahrheit zu enthüllen, auch auf die Gefahr hin, dass sie ihn fortan verabscheuen würde. »Zweifellos werden Sie entsetzt sein, wenn ich gestehe, dass ich in Augenblicken wie diesen etwas erlebe, das man nur als erhebende Erregung bezeichnen kann.«
Sie zuckte mit keiner Wimper. »Ich verstehe.«
Sekundenlang starrte er sie an. Vielleicht hatte sie nicht richtig gehört.
»Das bezweifle ich sehr, Lucinda.«
»Ihre Reaktion ist nicht außergewöhnlich, Sir. Sie benutzen Ihre Sinne so, wie die Natur es vorsah. Ich erlebe ein ähnliches Gefühl der Befriedigung, wenn mir eine Heilkräutermischung gelingt, die den Zustand eines Menschen verbessert oder gar sein Leben rettet.«
»Anders als bei Ihnen ist es nicht meine Sache, Leben oder Gesundheit zu retten«, sagte er. »Ich suche Antworten auf Rätsel, die uns die Gewalt aufgibt.«
»Und dabei betätigen Sie sich als Lebensretter«, beharrte sie, »so wie Sie den Jungen retteten, der von den Kultanhängern gekidnappt wurde.«
Er war nicht sicher, was er darauf antworten sollte. »Glauben Sie mir, wenn ich sage, dass derjenige, der mit böser Absicht hierherkam, mit der Gewissheit wieder ging, dass sein Besuch erfolgreich war.«
»Auch das können Sie erspüren?«
»Ja.«
Ihr Blick fiel auf den Papierstapel aus dem Schubfach. »Was haben Sie da?«
»Rezepte. Die letzten tragen das gestrige Datum. Von heute sind keine dabei.« Er legte die Rezepte in die Lade zurück und griff nach der Zeitung, die auf einem Bord hinter dem Ladentisch lag. »Das Blatt ist einen Tag alt. Gestern kam hier irgendwann alles zum völligen Stillstand.«
»Sie sind ganz sicher, dass Mrs Daykin nicht einfach in großer Eile das Haus verließ?«
Er öffnete die Registrierkasse und entnahm ihr eine Hand
voll Scheine und ein paar Münzen. »Wäre sie auf und davon, hätte sie sicher die Tageslosung mitgenommen.«
Lucinda betrachtete nachdenklich das Geld. »Ja.« Ein geschockter Ausdruck huschte über ihr Gesicht. »Wollen Sie damit sagen, dass sie noch immer hier ist?«
Er begutachtete eine Reihe kleiner, säuberlich etikettierter Apothekertiegel. »Sie ist zweifellos oben.«
»Und Sie sind imstande, hier unten in aller Ruhe nach Spuren zu suchen, während Sie gleichzeitig wissen, dass oben eine Tote liegt?«
Zum ersten Mal klang sie richtig geschockt, nein empört.
Er sah sie mit leichtem Stirnrunzeln an. »Das ist meine Arbeitsweise. Ich möchte mir einen Gesamteindruck verschaffen. Mit dem Leichnam befasse ich mich zu gegebener Zeit …«
»Um Himmels willen.« Sie lief zur Treppe. »Wir werden uns jetzt sofort mit dem Leichnam befassen. Zu Ihrer Information, Sir, Tote haben Vorrang. Spuren können warten.«
»Warum?«, fragte er verständnislos. »Die Frau ist vor Stunden zu Tode gekommen. Sehr wahrscheinlich im Laufe der Nacht. Da spielt es keine Rolle mehr, ob wir uns mit der Toten ein paar Minuten früher oder später befassen.«
Lucinda, schon auf der Treppe, raffte ihre Röcke mit beiden Händen hoch. Die Straßenfeger-Rüschen am Saum raschelten über die Stufen und gaben den Blick auf ihre hochhackigen Stiefel frei.
»Es geht hier um Anstand und Respekt, Sir«, sagte sie streng.
»Hmm.« Er folgte ihr nach. »So habe ich es noch nie betrachtet.«
»Offensichtlich. Sie konzentrieren sich zu stark auf Beweise und Spuren.«
»Das macht meine Arbeit aus, Lucinda.« Dennoch folgte er ihr weiter. Er wollte nicht, dass sie die Tote allein vorfand und unabsichtlich wichtige Beweise veränderte.
»Glauben Sie wirklich, dass wir Mrs Daykins Leichnam in ihrer Wohnung finden?«, fragte sie oben angekommen.
»Tote lassen sich schwer verstecken oder transportieren. Warum hätte der Mörder sich die Mühe machen und sein Opfer vom Tatort entfernen
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