Süßes Gift und bittere Orangen: Historischer Kriminalroman
der Schweine auf dem Sausteg.
Überreiter fand keine Freude an dem für ihn ungewohnten Anblick. Trotz fellgefütterter Stiefel und einem Umhang fror er, konnte seine Erwartung kaum bändigen. Was wollte das Fräulein von Leonsperg von ihm? War ihr etwas zu Ohren gekommen? War sie die Vorbotin eines großen Unglücks? Seit dem Verlobungsmahl hatte er versucht, die Gedanken an sie aus seinem Kopf zu verbannen. Der Kärglerin war sein Vorhaben zugutegekommen.
Auf einmal stand Anna Lucretia vor ihm, wie aus dem Nichts aufgetaucht, und sein Herz pochte wild. Das alte Verlangen schnürte ihm die Luft ab, begleitet von ganz neuen Bildern. Schön und anmutig wie immer war sie – trotz schlichter Kleidung, einer Haube und ihrem grauen Mantel. Nur die rosigen Wangen, der volle Mund und die leuchtend goldbraunen Augen brachten Farbe in das Bild, das sich Überreiter bot. Das Mädchenhafte schien aus ihr verschwunden. Es war eine erblühte, entschlossene Frau, die vor ihm stand; noch begehrenswerter für ihn als die steife, leicht verschreckte Jungfrau, die sie noch vor ein paar Wochen gewesen war. Sie ergriff sofort das Wort.
»Habt tausendmal Dank, Baumeister, dass Ihr gekommen seid. Ich wüsste sonst niemanden, dem ich mich anvertrauen kann. Kann ich Euch vertrauen?« Er sah so grenzenlos verblüfft aus, dass sie mutlos wurde. »Das kann ich doch, oder? Nicht mehr? Verzeiht, Meister Niklas, ich gehe gleich.«
Er zuckte zusammen wie angestochen.
»Nein, nein, bleibt bitte, Fräulein von Leonsperg! Ihr meint es also ernst?«
»Ernst?« Sie zögerte keine Sekunde. »Ihr könnt nicht wissen, wie ernst es mir ist, Baumeister. Es fällt mir ja nicht leicht, Euch um Hilfe zu bitten, nach allem, was geschehen ist.«
»Hilfe? Ich verstehe Euch nicht.«
Sie senkte den Kopf ein wenig, zog ihren Mantel enger und ließ sich wie entmutigt auf eine kleine Steinbank neben einer im Winter leeren Brunnenschale fallen.
»Ach, Meister Niklas, es ist so furchtbar. In nicht einmal drei Wochen soll ich Widmannstetter heiraten … und jetzt … jetzt kann ich ihm nicht mehr vertrauen. Die Paracelsusdiät, die so gut angefangen hatte … ich fürchte nun doch, dass sie meinem Vater das Leben kostet. Dieser Anfall während des Festes! Jeder hätte geschworen, mein Vater sei vergiftet worden … danach kam ich nicht umhin, nachzudenken. Vielleicht haben alle recht, die sagen, Widmannstetter sei ein Hochstapler und Betrüger, wie auch Ihr mich vor ihm gewarnt habt. Vielleicht haben die recht, die ihn einen Ketzer, Lutheraner, Mohammedaner nennen. Es wird erzählt, er sei aus Italien geflüchtet, nachdem er betrogen und sich schändlich duelliert hätte.« Anna Lucretia war selbst überrascht, welch banaler Unsinn ihr über die Lippen kam. Würde Überreiter ihr glauben? »Vielleicht haben ihn die Lutheraner nach Landshut geschickt, damit er das Vertrauen meines Vaters gewinnt und ihn dann meuchelt. Das wäre ein schlimmer Verlust für die katholische Sache. Womöglich hat er Komplizen auf der Trausnitz, wer weiß? Ich traue niemandem mehr, nicht einmal meiner Tante. Meister Niklas, Ihr habt mich gewarnt. Ihr schient viel zu wissen oder doch jedenfalls zu vermuten. Helft mir bitte, klar zu sehen!«
»Fräulein von Leonsperg, was soll ich sagen? Ihr habt mich abgewiesen.« Überreiter quälte sich sichtlich. »Gewiss freue ich mich über Eure Worte, und, wie soll ich es ausdrücken, hoffe, wieder in Eurer Gunst zu stehen. Was soll ich nur machen? Was wollt Ihr von mir? Ich … «
Anna Lucretia unterbrach ihn abrupt.
»Was ich will, Meister Niklas? Ich will wie Ihr, dass mein Vater lebt. Ich will ihn schützen. Ich will wissen, wen ich heirate, und kann es nicht allein rausfinden. Ich will wissen, ob jemand meinem Vater nach dem Leben trachtet, und ob Widmannstetter etwas damit zu tun hat. Wenn es so wäre, Baumeister, würde meine Verlobung aufgelöst und … «
Bei diesen Worten sank Überreiter vor ihr auf die Knie. Schluchzend, stammelnd hielt er ihre Beine fest und versuchte, sein Gesicht in ihrem Mantel zu verbergen. Anna Lucretia wusste nicht mehr, wie ihr geschah. Da er so viel größer war als sie, berührte er sie dabei in Brusthöhe, was sie trotz hochgeschlossenem Kleid als furchtbar abstoßend empfand. Doch sie beherrschte sich und wehrte ihn nicht entschieden ab. Sie verstand nur die gestammelten Worte »schuldig« und »unschuldig«, sonst aber nichts von seinem wilden Redeschwall. Schließlich packte sie ihn an den Schultern
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