Süßes Gift und bittere Orangen: Historischer Kriminalroman
versorgen zu können.
Am Dreifaltigkeitsplatz versuchten lachende Mädchen, Anna Lucretia zum Sautanz einzuladen. Sie entzog sich nur mühsam ihren kräftigen Händen. Gestern noch hätte ich sofort mitgetanzt. Reichen wirklich ein paar Augenblicke, um das ganze Leben eines Menschen zu verändern?, dachte sie und wischte sich wütend Tränen aus dem Gesicht. Törichtes Mädchen! Niemand soll das merken. Von da an zwang sie sich, nicht mehr zu laufen und keine Freundlichkeit abzuweisen. Obwohl das Brotbacken – ebenso wie Nähen, Putzen, Mistfahren und Holzhacken – in der Adventszeit verboten war, roch es überall nach frischen Backwaren für das Fest der Feste: Striezel, Lebkuchen, Pfeffernüsse und Kletzenbrot bot man ihr nicht an, die wurden bis zur Lichtmette zurückgehalten, aber auf dem Bergweg reichte ihr eine alte Frau etwas verschämt safrangelbe Thomaskringel. Es war ja zwei Tage zu früh. Sie nahm einen in die Hand, merkte an seiner duftenden Wärme, wie kalt ihr war und wie viel Hunger sie hatte. Trotzdem kaute und schluckte sie das Küchlein nur mit Mühe. Wird mir nichts mehr schmecken, bis er zurück ist?, fragte sie sich angstvoll, während sie der alten Frau dankte. Wieder spürte sie Tränen auf den Wangen, die sie verbarg, indem sie sich schnell umdrehte und weiterging. Sie erreichte die Treppen vor der Burgmauer und sah den Wittelsbacherturm. Es schien ihr unmöglich, an dem Brunnenhaus vorbeizugehen, im Damenhaus ihre einsame Ankunft zu erklären und Fragen zu beantworten. Bald würde im Dürnitz das Abendmahl serviert. Der Gedanke daran erschien ihr unerträglich. Sie wollte einfach weglaufen, ohne Ziel. Doch die Kälte kroch ihr schon so sehr in die Knochen, dass sie sich nach Wärme sehnte. So blieb sie beim Wittelsbacherturm stehen und erklärte der verwunderten Wache, sie wolle in die Bibliothek. Außergewöhnlich war das nicht: Sie hielt sich oft dort auf, allein oder mit ihrem Vater, ihren Lehrern und – seit dem Beginn des italienischen Baus – auch mit Johann Albrecht.
Der Wachmann ließ sie ein. Er war hungrig und wartete sehnsüchtig auf seine Ablösung, um im alten Dürnitz essen zu gehen. Für das Gesinde waren Erbsenbratlinge mit Sauerkraut angekündet worden. Gewiss fehlte noch ein gutes Stück Salz- oder Rauchfleisch dazu, doch dafür musste man bis zum Weihnachtsfestmahl warten. Käse und Kompott aber würde es bestimmt geben, vielleicht sogar geröstete Brotwürfel mit Majoran zu den Bratlingen.
In der vertrauten Umgebung der Bibliothek hielt es Anna Lucretia trotz noch warmem Kachelofen und Kerzenlicht nicht lang aus. Zu glücklich, zu unbeschwert waren die hier verbrachten Stunden gewesen. Die Bücher, ihre treuen Freunde und Lehrer, vermochten es heute nicht, sie vor den dunklen Schatten, die ihre Seele bedrohten, zu schützen. Ganz im Gegenteil: Sie fühlte sich noch verlassener. Plötzlich kam ihr in den Sinn, dass sie noch nie Widmannstetters Wohnstube ganz oben im Turm gesehen hatte. Nach der Hochzeit sollte das ihr gemeinsames Gemach werden. »Nur dieses eine Mal«, dachte sie bei sich, »auch wenn es danach noch mehr schmerzt.«
Sie nahm eine Kerze in die Hand und staunte dann über die sehr enge Wendeltreppe. Genau die richtige Treppe für ihn, sagte sie sich. Die Räume unter dem steilen Turmdach, eine Schlafstube und ein Arbeitszimmer mit vier schönen Erkern, waren wesentlich größer, als es ihr von unten vorgekommen war. Durch vier Wand- und vier kleine Erkerfenster drang schwaches Abendlicht. An diesem höchsten Punkt der Burg fühlte sich Anna Lucretia besonders geschützt und sehr erhaben. Die Lichter der Stadt erzitterten im Tal hinter den Bäumen des Burghügels; auf der anderen Seite blickte sie auf die Dächer, Türme, Türmchen, Giebel und Kamine der Trausnitz, die nun schon fast völlig von der Nacht verschluckt worden waren.
Im inneren Berghof rumorte es gewaltig: Schreie, Rufe, Befehle. Wahrscheinlich wurde Langhahn gerade abgeführt.
Erst als sie draußen nichts mehr erkennen konnte, wagte es Anna Lucretia, mehr Neugier für Johann Albrechts Gemach zu zeigen. Er besaß nur wenige persönliche Dinge, was ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigte. »Morgen ist er weg. Es wird sein, als ob er nie hier gewesen wäre.« Jetzt erinnerte sie sich bewusst an das, was sie am Tag davor in Ursulas Haus nicht hatte sehen wollen, nämlich die offenkundigen Spuren der intimen Vertrautheit zweier Liebender: das zerwühlte Bett, die Vorlieben für
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