Süßes Gift und bittere Orangen: Historischer Kriminalroman
beschloss Anna Lucretia, es ihnen gleichzutun und machte dankbar und fleißig mit, als in Burg und Stadt am Thomastag – drei großzügige Tage zu früh – die Zeit der Raunächte für begonnen erklärt wurde. »Zwischen den Zeiten [2] ruht die Arbeit«, das beherzigte jeder gerne. Dafür aber mussten Hausrat, Vieh und Nahrung und ganz besonders das Brot, das jetzt frisch gebacken werden durfte, sorgfältig mit der Räucherpfanne geräuchert und in der nächstgelegenen Kirche gesegnet werden. Am Ende dieses Jahres 1541 entging kein Milchgefäß, kein Nachttopf, keine einzige Pfeffernuss, nicht mal ein armseliges Huhn der reinigenden Kraft des Rauchs. Nie wurden mehr Rauchwecken, ein dunkles Früchtegebäck nach neuester Münchner Mode, in die Öfen geschoben, nie mehr Kletzenbrot nach ausgiebigem Räuchern verschenkt oder getauscht. Anna Lucretia befürchtete einen Stadtbrand, so verbissen schwenkten die Landshuter die Räucherpfannen. Gleichzeitig musste sie ihren Kummer mit aller Kraft zügeln. Denn an Stephani, dem zweiten Weihnachtstag, bekam jeder verlobte junge Mann von seiner Liebsten ein Stück Kletzenbrot. War die Scheibe schön glatt, weil gut geknetet und sorgfältig gebacken, sollte auch die Ehe gut geraten. Eine unebene Schnitte, aus der Birnen und Nüsse traurig herausragten, zeugte unmissverständlich von bösen Schatten über dem zukünftigen Paar. Würde Johann Albrecht an Stephani zurück sein, um sein Kletzenbrot von ihr zu bekommen? Das war sehr unwahrscheinlich. Schmerzerfüllt staunte sie darüber, wie sie nun die Zeit wahrnahm. Vor ein paar Wochen noch schienen die Tage und Stunden bis zu ihrer Hochzeit wie im Traum zu vergehen. Jetzt aber klebte jede Minute so hartnäckig an ihr, dass Anna Lucretia sie wie festgebissene Blutegel von sich ablösen musste. Mit niemandem konnte sie darüber reden, weder mit Vater, Tante, Hofrat oder Mätresse noch mit den vielen Ahnungslosen in der Stadt und auf der Burg, unter denen sich womöglich einer oder mehrere Mörder versteckten. Die meisten hielten sich von ihr fern, wussten sie doch anscheinend nicht, wie sie mit der Verlassenen umgehen sollten. Überreiter schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein. So sehr Anna Lucretia sich auch bemühte, sie bekam ihn nicht zu Gesicht. Fürchtete er eine Anklage wegen Langhahns Ermordung? Hegte er vielleicht weitere tödliche Pläne? Sie stand wie vor einer Mauer.
Die Einzige, die sich nicht von ihr fernhielt, war Theresa Kärgl. Die Frau des Küchenmeisters lief ihr ständig über den Weg, fragte aufdringlich und ohne Anlass nach ihrem Befinden, redete mehr mit ihr als in all den Jahren zuvor, verwickelte sie in Gespräche, deren Zweck Anna Lucretia nicht verstand und die sie nur mühsam beendete. Sie wusste nicht mehr, was sie von der groß gewachsenen, braunhaarigen Frau mit dem scharfen, deutlich herablassenden Blick halten sollte.
Als sie für die dritte Klöpfernacht in der Hofküche Proviant holte, gesellte sich die Kärglerin wieder zu ihr. An den letzten drei Donnerstagen vor Weihnachten zogen die armen Leute mit ihrer Kinderschar von Haus zu Haus, klopften an die Türen und baten mit schrill-eindringlichem Gesang um milde Gaben – deshalb nannte man diese Nächte Klöpfer-nächte. Doch da die mittellosen Kranken im Heiliggeistspital nicht selbst betteln konnten, bekamen sie vom Hof, was ihnen nach alter Sitte zustand. Seit Sabina und Anna Lucretia bei Ludwig lebten, hatten sie in jedem Jahr diese heilige Aufgabe persönlich übernommen. Denn das Spital wurde von Nonnen betreut, die auch das Kloster Seligenthal vor den Toren der Stadt bewohnten. Dort, im grünen Tal der Glücklichen, im Schatten der Afrakapelle, schliefen die Landshuter Wittelsbacher ihren letzten Schlaf und erwarteten ihre Auferstehung am Tag des Jüngsten Gerichts. Vom Wohl der Siechen im Heiliggeistspital hing also das Seelenheil der Fürsten auf der Trausnitz ab.
Anna Lucretia hob gerade zwei schwere Körbe voller Nüsse, Äpfel, Schmalz, Kletzenbrot und sogar Lebkuchen hoch, als Theresa sich anbot, der Herzogstochter zu helfen.
»Eure Tante ist dieses Mal verhindert, Fräulein von Leons-perg. Allein könnt ihr die schwere Last nicht so weit schleppen. Die Mägde sind alle beschäftigt. Lasst uns gemeinsam gehen!«
Anna Lucretia sah sich verzweifelt um, musste der Kärg-lerin aber zustimmen. Noch zwei Tage bis Heiligabend, in der Küche wie in den Wirtschaftsgebäuden war die Hölle los. Jeder und jede hätte wohl vier Paar
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