Süßes Gift und bittere Orangen: Historischer Kriminalroman
Hände gebraucht, um alle dringenden Aufgaben zu erledigen. Joris Kärgl, der gerade bedächtig notierte, was sein Reich in den beiden Körben verließ, war seinem Weib sehr dankbar.
»Ihr braucht jemanden an Eurer Seite, der Euch tragen hilft, Fräulein von Leonsperg. Die Last ist zu schwer für eine Person … «, er senkte die Stimme, »… und nach allem, was geschehen ist, wäre ich untröstlich, Euch allein zu wissen.«
In der Stadt mit all den Klöpfern, dachte Anna Lucretia entnervt, ist es zwei Tage vor Weihnachten mitten in einem Ameisenhaufen einsamer. Doch es half nichts; sie behielt ihre Gedanken für sich, bedankte sich artig beim alten Küchenmeister und überließ Theresa einen der zwei schweren Körbe. Kaum gingen sie die Bergstraße hinunter, plauderte die Kärg-lerin munter drauflos.
»Ach, Fräulein von Leonsperg, es tut mir im Herzen weh, Euch so voller Gram zu sehen. Doktor Widmannstetter hat sich als Euer unwürdig erwiesen.«
Anna Lucretia erstickte innerlich fast vor Wut, wollte sich aber nichts anmerken lassen. Unwürdig? Dieser wunderbare Gelehrte? Wer wäre denn sonst passend? Irgendwann würden es alle erfahren, wie würdig er in Wirklichkeit war. Doch wann? Der Schmerz bohrte sich hinterlistig in ihre Wut. Nur, falls er zurückkam! Der furchtbare Gedanke war wieder da. Sie musste ihn fest unter Verschluss halten, vor dieser neugierigen Frau wie vor allen anderen auch. Doch Theresas Neugier machte das schwieriger als das stumme, harte Mitleid, das ihr bisher entgegengebracht worden war. Trotz Anna Lucretias Schweigen ließ die Kärglerin nicht locker.
»Ich verstehe Euch. Das könnt Ihr bestimmt noch nicht so sehen. Es wird aber der Nächste kommen, der Euch den Verlust vergessen lässt. Wer weiß? Vielleicht ist er sogar schon da. Der Baumeister Überreiter hat doch beim Herzog schon vor Jahren um Eure Hand angehalten. Das ist ein tüchtiger, ein ansehnlicher Mann, ein richtiger Glücksfall für eine Frau.«
Theresa Kärgls Stimme war eindringlicher geworden; ihr Atem ging schneller, ihr Blick war starrer. Das entging Anna Lucretia nicht, die sich nun einige Fragen stellte. Der ohrenbetäubende Singsang der Klöpfer vor den reichen Häusern am Dreifaltigkeitsplatz – »Nudeln raus, Kletzen raus, oder mir hau’n a Loch ins Haus« – gab ihr Zeit, die Gedanken zu ordnen. Die Frau wollte etwas von ihr; nicht umsonst suchte sie ihre Gesellschaft. Doch was? Zum ersten Mal beobachtete das Mädchen sie genauer. Sie versuchte zu bestimmen, was ihr auffiel. An ihrer Kleidung wenig. Die um Kopf und Hals vielfach gefältelte Haube, das schwere Wollkleid in grau-rosa Tönen, der Schulterumhang aus Otterfell und die gestrickten Halbhandschuhe entsprachen zweifellos ihrem Stand, der Jahreszeit und der Kälte. Der enge, bestickte Gürtel war vielleicht überflüssig, betonte er doch durch die dicken Stofflagen erstaunlich genau die Wölbung ihrer Brüste und ihre wogenden Hüften. Diese aufreizenden Hüftbewegungen wollten eigentlich so gar nicht zu dem alten, schon steifen Küchenmeister passen.
»Als ob das von Bedeutung wäre«, seufzte sie. Beide Frauen hatten die laute Altstadt verlassen und waren zum Isarufer abgebogen, an dem das Spital lag. Worte sollte sie, Anna Lucretia, finden über den Baumeister? Das fehlte ihr noch!
»Ein Glücksfall für eine Frau? Ja, gewiss, Frau Kärgl, doch war ich sehr jung, als er um meine Hand anhielt. Das hat mich damals erschreckt. Auch ist er so groß und so breit und, meine ich, zu alt für mich.«
»Nur wenig älter als der Doktor«, unterbrach Theresa sie.
»Mag sein. Doch bei Doktor Widmannstetter war es trotzdem anders. Außerdem war ich selbst schon älter und es war mir ganz recht.«
»Und jetzt?«
Die Unvermitteltheit und ungewöhnliche Direktheit dieser Frage überraschte Anna Lucretia, gab ihr jedoch einen Hinweis: Die Kärglerin versuchte zu klären, ob Überreiter vielleicht heute eher nach ihrem Geschmack sein könnte. Die Antwort war einfach.
»Für mich hat sich seit damals nichts geändert. Ich würde den Baumeister sicher auch jetzt wieder abweisen.«
Der Atem ihrer Begleiterin beruhigte sich hörbar. Das hatte sie also wissen wollen! Öffnete sich Anna Lucretia eine seit Tagen verschlossene Tür? Etwas, das Überreiter betraf, trieb das Weib des Küchenmeisters an. Ein Jagdinstinkt erwachte in ihr. Sie verspürte Lust, Theresas Spieß umzudrehen.
»Wo steckt der Baumeister überhaupt? Seit Rorate habe ich ihn nicht mehr
Weitere Kostenlose Bücher