Süßes Gift und bittere Orangen: Historischer Kriminalroman
sicher. Wenn der Oberkoch, der Grünberger, mitmacht, ist es leicht. Da können diejenigen, die um ihren Anteil gebracht werden, der Braumeister, der Kellermeister, der Fischmeister und der oberste Jäger, nur wenig ausrichten. Übrigens glaube ich, dass der Fürschneider, der Quast, sich auch mit den Dreien zusammengetan hat. Das passt zu ihm. Gesehen habe ich nie etwas, aber der Fürschneider hat Macht. Er würde sich nicht widerstandslos hintergehen lassen. Also, gnädiges Fräulein, Ihr seht, wo man anfangen muss, Langhahns Mörder zu suchen. Gewiss nicht beim Überreiter!«
Der arme, unschuldige Baumeister? In Anna Lucretias Verblüffung schlich sich ein neuer Verdacht. Die Kärglerin wollte nicht nur wissen, ob Überreiter bei ihr, Anna Lucretia, noch Chancen hatte, sondern sorgte sich auch außerordentlich um dessen Schicksal. Ob sie ihn liebte? Das durfte die züchtige Jungfrau Anna Lucretia nicht fragen. Langsam wurde ihr schwindlig. Sie hatte gehofft, der reuige wie verliebte Baumeister würde ihr weiterhelfen. Nun war er wie vom Erdboden verschluckt. Dafür belagerte sie eine Frau, die zwar zweifellos gute Ohren und scharfe Augen besaß, mit interessanten Aufdeckungen nicht geizte und vielleicht die nützlichere Verbündete wäre, der sie sich dennoch unter keinen Umständen vorbehaltlos anvertrauen konnte. Oder doch? Täte sie besser daran, Theresa zu erzählen, dass sie Überreiter Versprechungen gemacht hatte und warum? Schließlich versuchten sie beide, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, in den Küchenvorgängen klarer zu sehen. Doch wenn sie das tat, musste sie ihrer Begleiterin verraten, wie es um Johann Albrecht stand. Das ging nicht. Viel zu gefährlich.
»Das macht Euch sprachlos, nicht wahr, gnädiges Fräulein? Ich wollte Euch nicht belästigen. Aber es ist wichtig, dass Ihr es erfahren habt, oder?«
Die Tochter des Herzogs erwachte aus ihren Gedanken.
»Oh ja, Frau Kärgl, außerordentlich wichtig. Ich danke Euch von ganzem Herzen. Mir wird schlecht bei der Vorstellung, wie unrecht ich dem Baumeister tat.«
Sie schimpfte innerlich mit sich, als sie sah, wie Theresas Augen schmal wurden. Sie glaubte, zu viel gesagt zu haben. Sie fragte sich, ob die Kärglerin von Überreiter besessen sei. Gab es nicht nur ihre, sondern gar zwei verbotene Liebschaften? Jungfrau war sie, Anna Lucretia, nicht mehr; vielleicht sogar schwanger. Ihre Fantasie reichte nicht so weit, dass sie sich eine handfeste Liebesaffäre zwischen dem Baumeister und dem Weib des Küchenmeisters vorstellen konnte. Wieder erklang Theresas Stimme.
»Fräulein von Leonsperg, antwortet mir! Ist Euch schlecht? Seht, wir sind beim Spital angekommen. Wollt Ihr etwas essen oder trinken? Habe ich Euch zu sehr traktiert mit diesen furchtbaren Geschichten? Hört Ihr mich?«
Anna Lucretia erschrak. Wo hatten ihre Gedanken sie hingetrieben? Sie fühlte sich elend. Hastig zog sie an der Türglocke. Die Klosterpförtnerin im weißen Gewand der Zisterzienserinnen öffnete und bemerkte besorgt das fahle Gesicht der jungen Frau.
»Ist Euch nicht gut, Fräulein von Leonsperg? Kommt schnell ins Refektorium, nein, doch lieber in die Küche. Da ist es warm.«
»Gebt mir Euren Korb, gnädiges Fräulein. Geht mit der ehrwürdigen Schwester Pförtnerin! Ich übernehme die Verteilung.« Theresa Kärgl schien sich Sorgen zu machen. »Wenn Euch die Kranken heute nicht sehen, macht das nichts. Morgen kommen wir sowieso wieder mit den Rauhnudeln.«
Anna Lucretia ließ sich von der Pförtnerin willenlos durch den Innenhof führen. Der Abend brach an. Die weißen Gestalten der Nonnen mit den schwarzen Schleiern schienen in der Dämmerung zu schweben. Sie vernahm das freudige Raunen der Kranken deutlich, als Theresa den ersten Saal betrat, bekreuzigte sich noch schnell vor der kleinen Kapelle der Heiligen Elisabeth, der Schutzpatronin der Siechen und Armen, neben dem Brunnenhäuschen. Sie liebte die Figur der ungarischen Königstochter, die als Kind schon verlobt war mit Ludwig, dem Landgrafen von Thüringen. Mit 14 Jahren wurde sie seine zärtlich geliebte Gemahlin, die er gegen die aufgebrachte Familie verteidigte, weil sie Prunk und Reichtum verabscheute. Als er vom Kreuzzug nicht zurückkam, war Elisabeth 21 Jahre alt, dreifache Mutter und heftig umworbene Witwe. Dennoch zog sie aus dem prächtigen Marburger Schloss in die Stadt zu den Ärmsten der Armen – ohne einen Blick zurück. Dort starb sie drei Jahre später in dem von ihr gegründeten
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