Süßes Gift und bittere Orangen: Historischer Kriminalroman
nur stumm am Ellenbogen und zwang sie zum Flussufer zurück. Er drückte sie gegen die Mauer des Spitals. Da sich aber, von ihrem Aufschrei angelockt, Stimmen näherten, zog er sie eilig weiter über den schmalen Landsteg auf die Mühleninsel. Diese Insel zwischen großer und kleiner Isar gehörte, außerhalb der Stadttore gelegen, zum Schwemmland des wilden Bergflusses. Dort betrieben Schmiede, Bäcker, Steinschleifer, Papiermacher, kurz alle Handwerker, die auf die Wasserkraft angewiesen waren, ihre Mühlen. An normalen Arbeitstagen hätte es hier sogar im Winter bei niedrigem Wasserstand reges Leben gegeben. Doch Anna Lucretia musste verzweifelt feststellen, dass an diesem vorweihnachtlichen Tag alles stillzustehen schien. Und dunkel war es auch zwischen den hohen, kahlen Bäumen der Insel, die sie nur in fröhlichem Sommerlicht kannte. Gleich hinter dem Steg lagen die Baustelle der Stadtresidenz, Ursulas Haus und der Deutsche Bau, wo Vater und Tante vermutlich schon auf sie warteten. Es war ihr klar, dass der Mann, der sie nun grimmig anstarrte, sie nicht einfach so laufen lassen würde. Instinktiv jedoch zeigte sie keine Angst; ihre Empörung war nicht gespielt.
»Was fällt Euch ein, Baumeister? Lasst mich los! Ich bleibe keinen Augenblick länger hier allein mit Euch.« Sie sah, wie abwechselnd Wut und Furcht in seinen Augen aufflackerten. »Aus dem Weg, sage ich! Wollt Ihr mich etwa zwingen, hierzubleiben, Baumeister?«
»Zwingen? Nein, gewiss nicht, Fräulein von Leonsperg.« Überreiter schien aufzuwachen.
»Wieso bin ich dann hier? Zu Tode erschreckt, von Euch verschleppt?«
»Ich sehe Euch seit Tagen nicht mehr, gnädiges Fräulein. Das ertrage ich nicht.«
»Ihr seht mich nicht mehr? Was soll das heißen? Seit Tagen schon sieht Euch niemand mehr. Man wundert sich. Ich kann Euch nicht sehen, noch weniger treffen, wenn Ihr Euch offensichtlich versteckt. Haltet Ihr das für klug? Jedermann fragt sich, warum und ob es mit Langhahns Tod zu tun hat. Auch ich.«
Bisher hatte sich kein Mensch außer Theresa ihr gegenüber über Überreiters Verschwinden gewundert. Das reichte Anna Lucretia, um ein ›alle‹ daraus zu machen. In dieser misslichen Lage musste sie sämtliche Register ziehen, um den Riesen zu beeindrucken. Sie hatte getroffen.
»Jeder wundert sich? Das kann doch nicht sein. Ich war bei meiner Mutter und den Kindern zu Hause. Ich habe nichts gehört, meine Mutter hat nichts gesagt.«
»Zu Hause hört man schwer, was getuschelt wird auf der Trausnitz und in der Stadt. Eurer alten Mutter wird man doch nicht ins Gesicht sagen, ihr Sohn könnte ein Mörder sein.«
»Ich, ein Mörder?« Ohne Vorwarnung packte er sie wieder und schüttelte sie hemmungslos an den Schultern. »Wer glaubt das? Wo habt Ihr das gehört? In der Küche, wo sie von der Erpressung bestimmt wissen? Sagt der Herzog es auch? Die Herzogin? Die Hofräte? Habt Ihr ihnen erzählt, ich sei erpresst worden? Von … von dem anderen Vorfall? Hat Weißenfelder deswegen Langhahn verhaftet? Bin ich der Nächste?«
Seine Hände rückten an ihren Hals. Sie roch seinen Schweiß, seinen Atem. War es Johann Albrecht auch so ergangen, bevor er ihn in die Löwengrube geworfen hatte? Bei diesem Gedanken überwog plötzlich blinde Wut ihre Angst. Mit aller Kraft trat sie ihm gegen das Schienbein. Ob Schmerz oder Überraschung – er ließ sie los. Blitzschnell schlug sie ihm mehrmals ins Gesicht.
»Seid Ihr jetzt noch kein Mörder, Baumeister, so werdet Ihr bald einer sein. Ich habe Euch vertraut. War das ein Fehler? Dann nehmt mein Leben, es ist mir nur Last. Ich bin bereit. Tut es! Befreit mich! Ich kann niemandem vertrauen, das weiß ich. Tut es!«
Während Anna Lucretia noch über ihre eigenen Worte staunte, schlug sich Überreiter hilflos gegen die Brust.
»Großer Gott, quält mich nicht so, Fräulein! Ich bin kein Mörder und werde niemals einer sein. Doch wer glaubt es? Hat der Herzog von der Erpressung erfahren? Habt Ihr es ihm erzählt? Ja oder nein?«
»Nein, ich habe es ihm nicht verraten.« Anna Lucretia nahm sich keine Zeit zum Nachdenken. »Der Soßenkoch ist verhaftet worden, weil der Grünberger ihn einen Giftmischer genannt hat. Ich weiß nicht, ob der Oberkoch ihn geopfert hat, um sich selbst zu retten, das wissen nur Langhahn und sein Mörder. Offenbar hatten einige Leute in der Küche Gründe, ihn zu töten. Das hört man hier und da. An Euch, Baumeister, hätte niemand gedacht, wenn Ihr nicht so auffällig
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