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Sumerki - Daemmerung Roman

Titel: Sumerki - Daemmerung Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dmitry Glukhovsky
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eigenes Leben in den letzten Wochen. Ich hatte mich in einer ähnlichen Situation befunden, war jedoch ungleich verwundbarer gewesen, denn schließlich hatte ich keine Ahnung, wie man sich vor bösen Geistern schützte, während die Indianer auf die Erfahrungen ihrer tausendjährigen Geschichte zurückgreifen konnten. Weder verfügte ich über einen magischen Speer noch hatte ich geahnt, dass brennendes Licht böse Geister anlockte. Doch würde ich jetzt nicht anfangen, das venezianische Glas und das böhmische Porzellan meiner Familie zu zerdeppern. Alles, was mir blieb, war, zum hundertsten Mal zum Türspion zu schleichen, ängstlich hindurchzublicken, die Türklinke zu kontrollieren und in die Küche zurückzukehren - den einzigen Platz auf der Welt, wo ich mich einigermaßen sicher fühlte. Draußen vor meiner Tür braute sich Düsternis zusammen, durch den Hof meines Hauses irrten die Dämonen der Selva, geweckt von irgendwelchen unvorsichtigen Konquistadoren, und ich durfte diesen geisterhaften Pfad nicht verlassen, auch wenn ich nicht wusste, warum ich ihm folgte und wohin er führte.
    »Noch eine Minute bis Neujahr!« , verkündete der Rundfunksprecher und verstummte, um den Zuhörern Gelegenheit zu geben, in fröhlichem Chaos Champagnergläser zu verteilen,
bengalische Feuer zu entzünden, das Licht zu löschen und den Draht an der Flasche zu lockern.
    Ich stürzte zum Kühlschrank, packte meinen Schampus und schaffte es gerade noch, meinen Korken mit dem zwölften Schlag der Turmuhr gegen die Decke zu ballern. Dann ließ ich etwas süßen Schaum in mein Glas perlen, stieß das Fenster auf, nahm einen kleinen Schluck und streckte mein Gesicht in die frostige Brise. Es roch angenehm nach Ruß, als ob jemand ganz in der Nähe einen Holzofen heizte. Eine riesige, durchsichtige Schneeflocke fiel genau in mein Glas. Ich musste lächeln und spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen.
    Ich war froh, dass ich es rechtzeitig geschafft hatte. Wenn du weißt, dass du selbst die gewöhnlichsten Dinge zum letzten Mal tust, gewinnen sie an Schönheit und Bedeutung.
    »Prost Neujahr!« , schrie es aus dem Radio.

EL ENCUENTRO CON EL DESTINO

    J agoniel hatte noch einmal meine Vermutungen bestätigt. Die kosmischen Prozesse, deren zufälliger Zeuge ich geworden war, erwiesen sich also doch als objektiv gegeben, und sie waren äußerst verhängnisvoll. Doch auch ein weiteres Dutzend Belege für meinen gesunden Menschenverstand änderten nichts an der Situation: Ohne mein unerschrockenes spanisches Pendant würde ich nicht herausfinden können, wie jene Expedition im 16. Jahrhundert geendet hatte. Ich hatte den einzigen Schlüssel verloren, mit dem sich das, was mit mir und mit der ganzen Welt geschah, dechiffrieren ließ.
    Das Feuerwerk draußen war noch in vollem Gang, als ich aus dem Nebenzimmer die Seiten des letzten Kapitels holte, um sie noch einmal genau durchzulesen. Während ich mit der Gabel in meinem Oliviersalat herumstocherte, suchte ich nach Hinweisen auf Ereignisse, die zeitlich nach der Gefangennahme des Autors lagen. Im Tagebuch wurde häufig auf Entdeckungen oder Schlussfolgerungen angespielt, die der namenlose Chronist erst noch machen würde, was darauf hindeutete, dass er all jene Fährnisse wohl doch überlebt und seinen Bericht erst sehr viel später verfasst hatte, als ihm das Ende der Geschichte bereits bekannt war.
    Im letzten Kapitel jedoch, gleich wie sorgfältig ich auch las, gab es keinerlei Hinweis darauf, dass der Konquistador wieder lebend aus dem Brunnen herausgekommen war. Ich
hatte wohl doch versucht, eine blau angelaufene und aufgeblähte Wasserleiche wiederzubeleben. Zum Teufel mit dem Spanier, sagte ich mir. So schwer mir dieser Entschluss auch fiel, ich musste die Finger davon lassen. Er war genauso tot wie mein Übersetzerkollege, der Mitarbeiter aus dem Asbuka -Büro und meine arme Nachbarin. Gott mochte seiner abtrünnigen Seele gnädig sein oder was auch immer die spanischen Priester im 16. Jahrhundert bei solchen Gelegenheiten gesagt haben mochten.
     
    Wie um den Toten zu verabschieden, begannen die Hunde im Hof in diesem Augenblick wild zu heulen.
    Mein Herz machte einen Satz und stürzte in die Tiefe: Streunende Köter waren für mich zu Herolden jenseitiger Gefahren geworden. Sollte ich etwa wieder Besuch bekommen?
    Was jetzt? Alle Götter, was tun? Sollte ich Jagoniels Rat befolgen? Das Licht löschen, mich für die Geister unsichtbar machen? Etwas von meinem Geschirr

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