Sumerki - Daemmerung Roman
immer weiter anwachsen. Ob sie noch Zeit haben würden, sich all dessen bewusst zu werden und zu bereuen - selbst wenn diese Reue keinen Sinn hatte -, um sich mit Hoffnungen zu trösten, zu resignieren und schließlich der Welt zu entsagen? Oder würde alles so rasend schnell vor sich gehen, dass sie zuletzt nichts als Todesangst empfinden würden?
Mochten die Muezzine, die ihre unruhige Herde von ihren Minaretten herab beobachteten, das nahende Ende ebenso verschweigen wie die orthodoxen Popen, die mit dem Rauch ihrer Inzensorien die Ratio benebelten. Mochten die katholischen Priester wieder einmal einen Rekordumsatz machen, indem sie den Preis für den Ablass in die Höhe trieben. Noch war genug Zeit für Möchtegern-Propheten und Sektierer, für wundersame, zum Scheitern verurteilte Rettungspläne, für Orgien und inbrünstiges Flehen genauso wie für massenhafte Selbsttötungen ungeduldiger Endzeitapostel. Ich persönlich bevorzuge die Guillotine der Folterbank und so hoffte ich sehr, dass sich der Untergang unserer Zivilisation innerhalb weniger Augenblicke vollziehen würde.
Ja, was hatte Noah eigentlich empfunden, als er von Bord seiner Arche übers Wasser blickte? Woran hatte Lot gedacht, als er Sodom verließ, ohne sich umzublicken, während es von den Flammen der Hölle verschlungen wurde? Welcher Orkan würde wohl im Kopf des letzten tibetischen Mönchs toben, der mit scheinbarer Seelenruhe von seinem Bergdorf aus auf die Ruinen des Weltalls blickte, während unter ihm der Himalaja in sich zusammenstürzte? Was würde ich empfinden?
Welche Ironie lag doch darin, wenn tatsächlich ich als Einziger einen Hinweis auf das nahende Weltende erhalten hatte - ausgerechnet ich, desillusioniert und sarkastisch, begriffsstutzig und borniert, feige und unentschlossen, wie ich war, völlig ungeeignet für die Rolle des Propheten, ganz zu schweigen von der eines Erlösers. Ich, der ich göttliche Offenbarungen für nichts als paranoide Fantasien hielt! Der ich mich selbst augenblicklich einem Psychiater zum Fraß vorgeworfen hätte, hätte ich irgendwelche Stimmen gehört, wie sie in den Lehrbüchern zur Schizophrenie beschrieben wurden - selbst wenn sie aus einem brennenden Dornbusch gekommen wären!
Merkwürdig war es schon, wenn sich jetzt sowohl die christliche als auch die jüdische und muslimische Eschatologie als haltlos erwiesen und das wahre Szenario des Weltuntergangs von heidnischen Priestern der Halbinsel Yucatán vorausgesagt worden war. Sollten die blutrünstigen Götter der Maya, die nur mit herausgerissenen, noch schlagenden Herzen zu besänftigen waren, ehrlicher zu ihren Jüngern gewesen sein als der barmherzige Jesus, der erleuchtete Buddha und der stolze Mohammed?
Erneut stand ich am Scheideweg, und wieder brauchte ich Rat. Nach kurzem Nachdenken entschied ich mich für meinen bewährten, wenn auch eigensinnigen Mentor: E. Jagoniel. Ohne Mühe fand ich im Verzeichnis den Begriff »Apokalypse« und geriet so auf Seite 403.
Jagoniel sollte mich nicht enttäuschen. Sogleich packte er den Stier bei den Hörnern:
»Typisch für die Religionen Mesoamerikas ist eine zyklische Vorstellung von Schöpfung und Niedergang. Sowohl die Azteken als auch die Maya glaubten daran, dass das Universum bereits vier derartige Zyklen durchlaufen hatte und sich derzeit im fünften befand, an dessen Ende die Erde aufgrund von Erdbeben zugrunde gehen würde.
Nicht selten haben zeitgenössische Wissenschaftler ihre Klingen bei dem Versuch gekreuzt, das genaue Datum der Apokalypse nach den Vorstellungen der Maya zu berechnen - und ihr Wissensdurst ist durchaus verständlich. Die wohl wahrscheinlichsten Erkenntnisse, die uns heute vorliegen, lassen folgende Berechnung zu: Die Länge jedes Schöpfungs- und Untergangszyklus betrug 13 Baktun, also etwa 5200 Jahre. Der Weltuntergang, der den entarteten Völkern und allen lebenden Wesen auf der Erde den Tod brachte, würde also am letzten Tag des dreizehnten Baktun eintreten.
Der Glaube der Maya an den zyklischen Aufbau des Weltgebildes war absolut, ebenso wie ihre Überzeugung, dass die nahende Apokalypse unabwendbar sei. In blindem Vertrauen auf ihre Sterndeuter und Auguren verwandelten die Indianer Mesoamerikas die gesamte Geschichte ihrer Zivilisation in ein riesiges, sich selbst erfüllendes Horoskop. Dem Diktat der Astrologie wurde nicht nur das Leben einzelner Stammesvertreter, sondern das Schicksal der gesamten Kultur untergeordnet. Der bedingungslose,
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