Sumerki - Daemmerung Roman
absprechen.
Es sollte ein ganzes Jahrzehnt dauern, bis Knorosows Hypothesen auch in der westlichen Fachwelt Anerkennung fanden. Zu groß war in der Zeit des Kalten Krieges das Misstrauen gegenüber den möglicherweise marxistisch beeinflussten Theorien sowjetischer Wissenschaftler. Aber auch aus den eigenen Reihen rechnete er mit Widerstand: Als ihm die öffentliche »Verteidigung« seiner Dissertation bevorstand, fürchtete er, man werde ihm ein Verfahren wegen Revisionismus anhängen - angeblich gab es bei Friedrich Engels irgendwo eine Passage, in der behauptet wurde, die Maya hätten nie so etwas wie ein Staatswesen gekannt.
Heute sind Knorosows Entdeckungen aus der Maya-Forschung nicht mehr wegzudenken: Alle späteren Arbeiten zur Entschlüsselung der Maya-Schrift bauen letztlich auf seinen Entdeckungen auf.
Schaurige Schönheit: Der Zauber der Maya-Hieroglyphen
Von den rund 800 Zeichen, aus denen sich die Maya-Schrift zusammensetzt, sind heute erst rund 300 entziffert. Ihre eigenartige, wenn nicht Furcht, so doch Respekt einflößende Schönheit ist sicherlich auch ein Grund für die Faszination, die sie auf uns ausüben. Knorosows Werke, die ich im russischen Original studieren konnte, enthalten zum Teil extensive Glossare mit möglichen Übersetzungsvorschlägen für einzelne Zeichen oder ganze Gruppen von Glyphen. Schon allein darin herumzublättern ist ein traumhaftes Vergnügen: Nach einer Weile fühlt man sich gleichsam in Trance versetzt und reist - wie der Protagonist des Romans - im Geist in ferne Welten. Auch das kann Übersetzen sein.
In der deutschen Ausgabe von Sumerki ist jedem Kapitel eine eigene Maya-Glyphe zugeordnet; sie entstammen einer frühen Publikation von Juri Knorosow aus den 1950er Jahren. Hier illustrieren sie jeweils einen bestimmten Aspekt der Geschichte, sind also nur im übertragenen Sinne als »Übersetzungen« der Kapitelüberschriften zu verstehen. Für den Leser mag sich daraus eine Art Vexierspiel zwischen der spanischen Überschrift, dem Maya-Zeichen und dem übersetzten Erzähltext ergeben - in gewisser Weise spiegelt sich darin erneut jenes eigentümliche Spannungsverhältnis zwischen den alten Mythen der Ureinwohner, der christlich-hispanischen Okkupationskultur und Dmitri Andrejewitschs fantastischer Geschichte.
Hier die Aussprache und Bedeutung der einzelnen Zeichen, so wie sie Knorosow 1955 interpretierte (aus: Knorozov, J.: Sistema pis’ma drevnich Majja , Moskau 1955):
Capítulo II - molhal (»sich versammeln, sich aufmachen«)
La Tarea - ak (»Regen«)
El Cenagal - zuubal (»geopfert werden«)
El Auto de Fé - poc (»Feuer«)
La Fiebre - ox pocmal kin (»sengende Sonne«)
La Obsesión - ah cimil (»derjenige, der stirbt«)
La Advertencia - vayak (»Vorzeichen«)
La Intrusión - akalhal (»feindlich gesinnt sein«)
La Iniciación - bolay (»Jaguar«)
La Revelación - tzul (»Hund«)
La Condena - mul (»Pyramide«)
Feliz Año Nuevo - helil (»Veränderung, Ablösung«)
El Encuentro con el Destino - nucxib (»Alter Mann«)
El Fin del Mundo - kal (»Brunnenöffnung«)
El Templo de la Memoria - kuul otoch (»Tempel«)
Las Conversaciones con Dios - Itzamna (»Itzamná«)
Capítulo I - yax chun (»Anfang«)
Erschütternde Parallelen: Kataklysmen in Fiktion und Realität
Anders als der Erzähler von Sumerki habe ich für meine Übersetzung einen Computer verwendet; die nächtlichen Spiegelungen im Fenster des Arbeitszimmers sowie die einsamen
Mahlzeiten vor dem Radioapparat in der Küche gehören jedoch auch zu meinem Alltag.
Die Intensität der Auseinandersetzung, die einem Glukhovskys Original abverlangt, führt unausweichlich dazu, dass der Übersetzer mitunter - nicht selten zum Leidwesen von Freunden und Familie - tief in den Text hinabtaucht und sich damit auf ganz spezielle Weise, gleichsam »mitschöpfend« identifiziert. Umso stärker trifft es ihn dann, wenn die Fiktion, in der er sich gerade tummelt, auf einmal Bezüge zur Realität aufweist, besonders wenn sie sich derart häufen wie 2010: Zu Beginn des Jahres hatte ich gerade die ersten Kapitel des Romans bearbeitet, als ich am 12. Januar die Meldung von den verheerenden Erdstößen auf Haiti im Radio hörte.
Damit nicht genug: Mit geradezu unheimlicher, metrischer Genauigkeit schienen die Schreckensmeldungen aus Dmitri Alexejewitschs altem Empfänger den Takt für tatsächliche Ereignisse vorzugeben - fast mit jedem weiteren Kapitel erfuhr auch ich von immer neuen Katastrophen: im Januar Haiti,
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