Summer and the City - Carries Leben vor Sex and the City: Band 2 (German Edition)
seinen Vater umbringen, um Erfolg zu haben?«
»Aber Capote hat niemanden umgebracht. Jedenfalls noch nicht«, werfe ich ein. »Oder ist der fiktive Selbstmord seiner Schwester letztlich seine Schuld?« Die Klasse bricht erneut in Kichern aus.
»Diese Diskussion geht doch völlig am Thema vorbei«, sagt Rainbow. Es ist erst das zweite Mal seit Kursbeginn, dass sie sich zu einer Äußerung herablässt, und ihre Stimme klingt so demonstrativ gelangweilt, als wolle sie uns allen deutlich machen, wo wir ihrer Meinung nach stehen. Nämlich irgendwo weit, weit unter ihr. »Die Schwester ist tot. Was macht es also für einen Unterschied, was irgendwer über sie sagt? Ich fand die Geschichte sehr eindringlich und konnte mich gut mit dem Schmerz dieses Mädchens identifizieren. Mir erschien das alles total realistisch.«
Capote bedankt sich mit einem charmanten Lächeln bei Rainbow und zwinkert ihr zu, als teilten sie beide das Wissen darum, die literarische Elite inmitten eines Haufens pseudogebildeter Möchtegerns zu sein. Jetzt bin ich mir ganz sicher, dass die beiden etwas miteinander haben und ich frage mich, ob sie von dem Model weiß, mit dem er auf der Party im Puck Building war.
Nachdem Capote an seinen Platz zurückgekehrt ist, kann ich ihn in Ruhe im Profil studieren. Seine Nase hat einen aufälligen Höcker, der bei den Duncans vermutlich von einer Generation zur nächsten weitervererbt wird und mit Sicherheit der
Fluch aller weiblichen Familienmitglieder ist. Hätte Capote eng stehende Augen, würde diese Nase seinem Gesicht ein rattenähnliches Aussehen geben, aber seine liegen weit auseinander. Als er sich nach hinten dreht, fällt mir zum ersten Mal auf, dass sie tieflau sind.
Ich schaue rasch weg.
»Gut. Dann darf ich jetzt L’il bitten, uns ihr Gedicht vorlesen«, murmelt Viktor.
L’ils Gedicht handelt von einer Blume und ihrer Wirkung auf drei Generationen von Frauen einer Familie. Als sie fertig ist, herrscht im Klassenzimmer einen Moment lang andächtige Stille.
»Eine wunderbare Arbeit. Sehr berührend.« Viktor erhebt sich und schlurft mit hängenden Schultern wieder nach vorne.
»Ach, das war nichts Besonderes, das hätte jeder schreiben können«, winkt L’il bescheiden ab. Sie ist vielleicht die Einzige in unserem Kurs, die es nicht nötig hat, sich aufzuspielen, was wahrscheinlich daran liegt, dass sie wirklich Talent hat.
Viktor Greene bückt sich nach seinem Rucksack und schwingt ihn sich leise ächzend auf eine Schulter. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, was sich außer seinen Unterlagen darin befinden soll, aber er stellt sich an, als würde er Backsteine transportieren. »Das war’s schon wieder für heute. Wir sehen uns am Mittwoch wieder. Alle, die bisher noch keine Arbeiten eingereicht haben, holen das bitte bis Montag nach.« Sein Blick irrt suchend durch den Raum und bleibt schließlich an mir hängen. »Ach ja, und Sie, Carrie Bradshaw, würde ich gern kurz in meinem Büro sprechen. «
Ich werfe L’il einen erschrockenen Blick zu, aber sie zuckt nur ratlos mit den Schultern.
Will Viktor Greene mir sagen, dass ich in seinem Kurs völlig fehl am Platz bin? Oder – auch wenn ich das kaum zu hofen wage – dass er aufgrund meiner brillanten Diskussionsbeiträge erkannt hat, dass ich die talentierteste Studentin bin, die ihm je über den Weg gelaufen ist? Oder …? Nein, es ist zwecklos. Statt weiter darüber nachzugrübeln, was er von mir wollen könnte, rauche ich mit den anderen noch schnell eine Zigarette und mache mich anschließend auf den Weg zu seinem Büro.
Nachdem ich an die geschlossene Tür geklopft habe, öfnet sie sich einen Spaltbreit, und das Erste, was in mein Blickfeld gerät, ist Viktor Greenes gigantischer Schnurrbart, gefolgt von seinen Hängebäckchen, denen es ofensichtlich schon seit Längerem nicht mehr gelingt, sich den Gesetzen der Schwerkraft zu entziehen. Wortlos macht Viktor die Tür noch ein Stückchen weiter auf und lässt mich eintreten. In seinem winzigen Büro regiert das Chaos – jede verfügbare Fläche ist mit Büchern, Papierbergen und Zeitschriften übersät. Er nimmt einen Stapel Unterlagen von einem Stuhl und sieht sich hilflos um.
»Da drüben vielleicht?« Ich deute aufs Fensterbrett, wo neben einem Turm aus Büchern noch ein kleines Eckchen frei ist.
»Sehr aufmerksam, danke«, murmelt er und legt den Stapel dort ab.
Ich setze mich auf den nun frei geräumten Stuhl und sehe ihn erwartungsvoll an, während er umständlich
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