Summer and the City - Carries Leben vor Sex and the City: Band 2 (German Edition)
mich verlegen und nahm sofort die Finger von den Tasten. Ich wollte um jeden Preis vermeiden, dass Samantha sich in irgendeiner Weise durch mich gestört fühlte, nachdem sie mich so großzügig aufgenommen hatte.
Als ich mich jetzt hinter L’il die Treppe zum Seminarraum hochschleppe, fühle ich mich hundeelend. Ich muss mich endlich zusammenreißen und ernsthaft anfangen zu schreiben.
Mir bleiben nur noch sechsundfünfzig Tage.
Plötzlich fällt mir noch etwas anderes ein. »Sag mal, L’il?« Ich laufe schneller, um sie einzuholen. »Hat Bernard zufällig angerufen? «
»Tut mir leid.« Sie schüttelt mitfühlend den Kopf.
Aber es kommt noch schlimmer. Denn heute wird uns das Vergnügen zuteil, Capote Duncans literarischen Ergüssen lauschen zu dürfen. In meinem verkaterten und von Selbstzweifeln gemarterten Zustand ein äußerst zweifelhaftes Vergnügen. Als er nach vorne geht und mit einem Räuspern dazu ansetzt, seine
Geschichte vorzulesen, stütze ich verzweifelt den Kopf in die Hände und frage mich, wie ich diesen Kurstag bloß überstehen soll.
»… sie hielt den Rasierer zwischen Daumen und Zeigefinger. Eine Glasscherbe. Ein Eissplitter. Ein Erlöser. Die Sonne war der Mond, und aus Eis wurde Schnee, während sie langsam entschlief. Eine Wandernde, im Schneesturm verirrt«, beendet Capote nach einer halben Stunde seine Lesung und schiebt sich mit einem selbstzufriedenen Lächeln die Brille höher auf den Nasenrücken.
»Danke, Capote«, murmelt Viktor Greene, der zusammengesunken in der letzten Reihe sitzt.
»War mir eine Ehre«, entgegnet Capote, als hätte er uns gerade einen Wahnsinnsgefallen getan.
Ich mustere ihn verstohlen. Was finden L’il und ofensichtlich noch diverse andere New Yorker Frauen – darunter sogar Models – bloß an ihm? Okay, er hat überraschend männliche Hände. Hände, die aussehen, als könnten sie ein Segelboot steuern, einen Nagel einschlagen oder eine Frau eine steile Klippe hinaufziehen. Schade nur, dass sein Charakter da nicht mithalten kann.
»Irgendwelche Kommentare zu Capotes Geschichte?«, fragt Viktor Greene. Und ob, würde ich am liebsten rufen. Sie war grottenschlecht. Ehrlich gesagt fand ich sie sogar richtig zum Kotzen. Ich hasse rührselige Geschichten über perfekte Mädchen, denen sofort jeder Mann verfällt und die sich am Ende trotzdem das Leben nehmen, weil ihre innere Traurigkeit ihnen einfach keinen anderen Ausweg lässt. Dabei sind sie in Wirklichkeit bloß psychisch gestört. Aber das sehen die Männer natürlich nicht. Die sehen nur ihre Schönheit. Und ihren Weltschmerz.
Männer können so dumm sein.
»In welcher Beziehung steht das Mädchen noch mal zu dir als Erzähler?«, fragt Ryan und die Skepsis in seiner Stimme verrät, dass ich mit meiner Meinung nicht allein bin.
»Sie ist meine Schwester«, antwortet Capote steif. »Ich dachte, ich hätte das in der Anfangssequenz deutlich gemacht.«
»Da muss ich wohl irgendwas verpasst haben«, sagt Ryan stirnrunzelnd. »Die Art, wie du über sie schreibst, klingt nicht so, als würde ein Bruder über seine Schwester sprechen, sondern ein Mann über die Frau, in die er verliebt ist.« Ryans harsche Kritik erstaunt mich. Immerhin sind die beiden eng miteinander befreundet. Aber der Konkurrenzdruck in diesem Kurs ist nun mal ziemlich groß. Sobald man den Seminarraum betritt, ist man in allererster Linie Schriftsteller.
»Es hat fast schon etwas … Inzestuöses«, beteilige ich mich an der Diskussion.
Capote sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und ich habe das Gefühl, dass er zum allerersten Mal wirklich Notiz von mir nimmt – allerdings nur, weil er muss. »Genau davon handelt meine Geschichte. Sollte dir das entgangen sein, kann ich dir auch nicht helfen.«
Ich bleibe hartnäckig. »Aber bist das wirklich du, um den es da geht?«
»Es ist Fiktion«, entgegnet Capote, der sichtlich um Haltung ringt. »Natürlich bin das nicht wirklich ich.«
»Wenn es weder um dich noch um deine Schwester geht, müssen wir mit unserer Kritik an ihr ja auch kein Blatt vor den Mund nehmen«, sagt Ryan und bringt damit den ganzen Kurs zum Kichern. »Nichts läge mir ferner, als über ein Mitglied deiner Familie irgendein schlechtes Wort verlieren zu wollen.«
»Als Schriftsteller muss man bereit sein, alles und jeden in seinem Umfeld kritisch zu hinterfragen«, meldet sich L’il zu Wort. »Das darf die eigene Familie nicht ausschließen. Heißt es nicht sogar, man müsse als Künstler
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