SUMMER DAWN (Sommerdämmerung) (German Edition)
die hässliche Wirklichkeit vor Tonys Augen. Als ob sein irrer Fokus sich plötzlich aufklärte.
Hastig nahm er sein Telefon und wählte Carls Mobilenummer in Frankreich. Sorgen um den kleinen Ty stiegen in ihm auf wie zu Zeiten der Grundschule. Ein lange vergrabenes und trotzdem nicht minder lebendiges Gefühl.
«Die von Ihnen gewählte Nummer ist nicht mehr in Betrieb», meldeten nacheinander wechselnde Frauenstimmen in fünf verschiedenen Sprachen, angefangen mit Französisch.
Tony erhob sich von der Couch und lief ins Arbeitszimmer, um die Visitenkarte zu suchen, die sein Bruder ihm vor seiner Abreise nach Paris voller Stolz in die Hand gedrückt hatte. Tony wusste genau, wo er sie verborgen hatte, damit sie ihm nicht ständig zufälligerweise ins Blickfeld geriet und dieses schwelende ungute Gefühl hervorrief, das nach krankhaftem Stolz und unverbesserlicher Unnachgiebigkeit roch.
Er fand die Karte, wie erwartet, in seinem abgeschlossenen Schreibtisch.
Er rannte zurück ins Wohnzimmer und wählte die Nummer der internationalen Meldestellte, die Carl zusätzlich draufgekritzelt hatte bei der Verabschiedung auf dem Gehsteig.
«Falls du mich mal dringend suchst, hier erreichst du mich. Das internationale Call-Center des Verlages ist 24 Stunden besetzt. Schließlich muss man bereit sein, wenn eine bahnbrechende Story anklopft!», hatte Carl damals lachend gerufen, halb aus dem Fenster des gelben Taxis gelehnt, welches ihn zum JFK Airport brachte. Und zu seinem Flug nach Paris, kurz vor Antritt seiner neuen Stelle in Europa.
Fünf Jahre. Wie die Zeit vergeht!
Tony atmete tief durch und horchte gespannt. «Irkwood Publishers, hier spricht Anna Kowalski, wie kann ich Ihnen helfen?»
«Hallo Miss Kowalski, hier spricht Anthony Levine. Ich muss meinen Bruder in einer dringlichen Angelegenheit sprechen. Er arbeitet für Ihren Verlag in Frankreich als Korrespondent für West- und Osteuropa. Leider kann ich ihn auf seinem Mobiltelefon nicht erreichen.»
«Ich verstehe. Wie ist lautet sein vollständiger Name?»
«Carl Tyler Levine.»
«Alles klar. Einen kleinen Moment bitte.»
Warteschleife. Generischer Plastik-Chill Out. Eine halbe Minute später meldete sich die Frau zurück.
«Sind Sie noch dran?»
«Jep.»
«Mister Levine arbeitet nicht mehr als Festangestellter bei uns. Genauer gesagt hat er vor etwas mehr als neun Monaten beschlossen, als Stinger tätig zu werden. Mister Levine arbeitet also weiterhin für uns als freischaffender Mitarbeiter, aber auf unabhängiger Basis.»
«Wann genau hat er das letzte Mal für Irkwood geschrieben?»
«Das kann ich Ihnen leider nicht sagen, dazu müsste ich die Buchhaltung kontaktieren. Und das ist vertraulich.»
«Hören Sie! Es ist wirklich ungemein wichtig. Ich bin sein Bruder. Bitte!»
«Tut mir leid, am Telefon kann ich Ihnen keine derartigen Auskünfte geben. Wenn Sie genauere Angaben benötigen, kommen Sie übermorgen in unser Büro an Broadway und 46th Street. Und bringen Sie einen gültigen Ausweis mit.»
«Verdammt! Hören Sie! Jetzt rücken Sie schon raus damit!»
«*Stille* – Sir, ich bitte Sie! Nichts zu machen.»
«Okay, okay, schon gut. Nichts für ungut. Entschuldigen Sie bitte! Einen schönen Tag noch.»
Jetzt verlier ich auch noch die Fasson. Das war ja ein gelungener Auftrit!
«Ihnen auch. Danke und auf Wiederhören.»
Tony drückte die rote Schaltfläche auf dem Touchscreen seines Telefons.
Carl ein Stinger? Der kleine Ty ist zwar kein Materialist, aber er liebte seine Arbeit für Irkwood und war einem vernünftigen Lebensstil auch nicht abgeneigt. Freiheit wird nunmal auch ein Stück weit von der Kohle bestimmt.
Die traditionell angreifende Haltung und Kühnheit der Downtown Weekly, auch unbequemen Themen gegenüber, haben Carl schon immer angezogen. Was in aller Welt hat ihn dazu gebracht, seinen Traumjob aufzugeben, wenn er dabei nichts zu gewinnen hat?
Tony war nun endgültig verwirrt. Die dramatische Fahrt in DuCrois Porsche frühmorgens, die mysteriöse Blonde, die K.O.-Tropfen, gefolgt von Kindheitserinnerungen in Form von Spielzeugautos per Express-Paket und nun auch noch die Geschichte mit Carl. Ein sehr merkwürdiger Tag.
Tony legte den Memory-Chip in seinem Safe, ging zurück in das Wohnzimmer und setzte sich auf die breite Ledercouch. Er schaltete den TV, um auf andere Gedanken zu kommen. Sorgen stiegen in ihm auf wie Heliumballons, wie tellergrosse Luftblasen in einer Taucher-Doku.
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