SUMMER DAWN (Sommerdämmerung) (German Edition)
schwarze Wagen neben mir stoppte im verregneten Hinterhof. Kimura hat mich aus der Gosse geholt. Ich war 14 Jahre alt. Vollwaise, ohne Bildung oder Wissen. Vollgepumpt mit Metamphetamin. Alles, was ich damals wusste, hatte ich auf der Strasse gelernt. Dealen, schmuggeln, überleben. Kimura hat mich von meiner Crystal-Sucht befreit, hat mich ausgebildet, mich zu seinem Schützling gemacht. Ich habe ihn begleitet während der ganzen Zeit des Aufstiegs zum mächstigsten Mann des kai. Und jetzt stehe ich am Abgrund.
Takeda blickte auf die Strasse weit unten. Tränen traten in seine Augen. Der Schlund übte einen starken Sog auf ihn aus. Takeda ballte seine Fäuste.
Nein! Ich werde mich nicht der Verantwortung entziehen. Wenn der Rat von mir verlangt, dass ich mich opfere, werde ich dem Beschluss Folge leisten. Ich gebe nicht auf. Ich bleibe stark. Hier endet mein Weg noch nicht.
Er senkte seinen Blick auf die Rolle aus feinstem Reispapier besonderer Qualität, welches seit Jahrhunderten einzig für die Überbringung von wichtigen Botschaften innerhalb des Syndikats verwendet wurde. Die Art des Papiers war genauso wichtig wie das, was darauf stand. Das Format, die glatte Beschaffenheit der Oberfläche und der feine gelbliche Stich bedeutete, dass die Rolle einen Aufruf enthielt, in die geheime unterirdische Versammlungshalle zu kommen. Er brach das zeichenlose Siegel und rollte das Papier mit beiden Händen auf. Auf dem Reispapier war ein einzelnes Schriftzeichen aufgemalt – そ – kunstvoll und elegant, wie es nur Meister der Kalligraphie beherrschen. Es war das Hiragana-Zeichen für den Laut « So» . Schriftzeichen von der Art, wie sie jedes japanische Kind als Erstes lernt. Bevor später die aus dem Chinesischen stammenden Kanji hinzukommen, wo nahezu jedes der tausenden Zeichen ein bestimmtes Wort bedeutet. Kompliziert und anmutig, schwierig zu erlernen.
Hiragana hingegen verstanden auch die Schläger und Straßenkämpfer des Syndikates, welche kaum je eine Schule von innen gesehen hatten. Der andere Grund für die Verwendung der Zeichen der Fünfzig-Laute-Tafel war die Gepflogenheit Japans, in privaten Botschaften Hiraganas zu verwenden statt der Kanji, da es gegenüber dem Empfänger als unhöflich galt, diesen mit der eigenen Bildung beeindrucken zu wollen.
Takeda wusste genau, wie das Zeichen einzuordnen war. Das Papier verriet ihm den Ort, das Zeichen die Zeit und den Tag des Treffens.
Der kommende Donnerstag. Das heißt morgen.
Er würde wie immer bei wichtigen Zusammenkünften vor dem Morgengrauen von einer schwarzen Limousine mit getönten Scheiben abgeholt werden, wie er es früher gemeinsam mit Kimura etliche Male erlebt hatte. Es gehörte zum Prozedere, dass man ihm die Augen verband für die Fahrt. Außer dem Vorsitzenden des Rates wusste niemand, in welchem der hunderttausenden von Kellern Tokyos sich die Versammlungshalle befand. Es war anzunehmen, dass mehrere nahezu identische Lokale dieser Art über die ganze Stadt verteilt existierten, welche von innen kaum zu unterscheiden waren.
2
Takeda legte die Schriftrolle beiseite. Er begab sich in sein Schlafgemach. Er tauschte den Maßanzug mit einem Kimono aus roter Seide, verziert mit feinsten traditionellen Stickereien aus Weißgoldfäden, und ließ sich ein heißes Bad einlaufen im angrenzenden Badezimmer. Er nahm ein kleines Fläschchen aus dem Regal; fünf Tropfen des darin befindlichen Öls rieselten in die Wanne.
Ravintsara. Klärt den Geist, reinigt die Lungen.
Nachdem er ein paar weitere Salze und Ingredienzien in die Wanne gegeben hatte, ging er zurück in das Wohnzimmer. Die Wohnung verfügte über hohe Räume und einen exklusiven Ausbaustandard. Takashi Kimura hatte sie Takeda geschenkt anlässlich seines zehnten Dienstjahres. Komplett mit Möblierung, Vorräten und voller Hausbar.
Die Idee dahinter war vermutlich, ein sicheres Versteck zu haben, falls ich mal in die Schusslinie der Bullen geraten würde. Hier in einem der feinsten Bezirke der Hauptstadt hätten sie zuletzt nach mir gesucht.
Bisher hatte Takeda die Residenz wenig benutzt. Im Dienste von Kimura und seines Clans hatte er kaum über Freizeit verfügt und meist im herrschaftlichen Haus des Meisters in einem Gästezimmer geschlafen. Das war ihm recht gewesen, die Welt draußen drohte überzuquellen mit Ablenkungen vom wahren Pfad. Mit Frauen wusste er nicht recht umzugehen, seine Vertrauten gehörten ausnahmslos zum inneren Kreis des Syndikats.
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