SUMMER DAWN (Sommerdämmerung) (German Edition)
– jedes Wesen, jede Welle, jedes Blatt, jedes Auge, jede Klaue – hatten eine bestimmte Bedeutung. Für Außenstehende ein im Detail undechiffrierbarer Code. Takedas ganzer Körper war übersät davon, bis auf den Kopf, den Hals, die Region um die Schlüsselbeine, seine Hände und Füße. Auf der rechten Seite auf Höhe der Rippen zogen sich zwei Finger lange Narben quer über den Torso, eine Salve aus einer Maschinenpistole hatte die Hautgemälde an dieser Stelle unwiederbringlich zerstört.
Auf seinem linken Brustmuskel, vom Brustbein bis zum Ansatz der Schulter, gab es noch ein handgroßes Stück unverzierte helle Haut.
Der neunte Drache.
Zu seiner linken Brustwarze hin, rund um das leere Stück Haut, neigten sich acht Drachenköpfe, deren gezackte Schweife und Klauen seinen linken Arm schmückten.
Morgen ist es soweit. Wer hätte das gedacht.
Takeda stieg in die ausladende Wanne und genoss die Wärme des dampfenden Wassers für ein paar Minuten. Dann setzte er sich auf, nahm das abgegriffene Hagakure und las.
Buch 4, Eintrag 18. Sei immer auf der Hut! Großmeister Naoshige genehmigte sich jeden Abend einige Schlummerbecher. Er machte jedoch eine Tugend daraus, die Zeit totzuschlagen mit Diskursen und Geplauder, bis er wieder absolut nüchtern war vor dem Zubettgehen. Als er bereit war für die Nachtruhe zurrte er sein Leinengewand eng an den Körper, zog sein Schwert, inspizierte seine eiskalte Klinge genau, hielt sie sich so nah ans Gesicht dass sie seine Augenbrauen berührte und legte das Schwert anschließend zurück in die Scheide. Nicht eine einzige Nacht hat er es ausgelassen.
Takeda blätterte zurück, kannte das Werk fast auswendig.
Buch 1, Eintrag 59. Betrachte dich nie als etabliert! Ein Mann, der denkt, er habe es geschafft, ist unweise. Ein Mann, der zufrieden ist mit fixen Anschauungen, die er durch respektable Bemühungen errungen hat, ist bereits in die Falle geraten. (...) Man sollte erreichte Ziele immer als unbefriedigend und nicht gut genug betrachten, um das ganze Leben auf Erkundung zu bleiben nach dem wahren Weg zur Erfüllung. Wahrheit liegt nirgends außer auf dem Pfad zur Erfüllung selbst.
Takeda blätterte weiter, sich wundernd, wo sein Pfad als Nächstes hinführen möge. Er hatte geglaubt, seine Bestimmung gefunden zu haben.
Buch 1, Eintrag 73. Sprich Worte der Aufmunterung. Ein Mann, der von Unglück getroffen wurde, soll mit wohlbedachten, aufrichtigen ersten Worten angegangen werden. (...) Der Samurai ist in jedem Fall ein Versager, wenn er niedergeschlagen oder besorgt erscheint. Er ist nutzlos, wenn er nicht besten Mutes ist und bereit, für das gute Gelingen alles zu geben.
Takeda las noch ein paar andere Abschnitte, legte das Buch weg und entstieg dem Bad. Er trocknete sich ab, streifte sich seine helle Trainingshose aus Leinenstoff über und schritt in das geräumige Studierzimmer, welches außer ein paar Handwaffen und einigen unterschiedlich langen Stöcken in einer Halterung an der Wand leer war. Die Politur des dunklen Holzbodens glänzte in der Dunkelheit. Er nahm eines der Katanas 12 von der Wand und begann seine körperliche Ertüchtigung. Gewandt und behände schlug er die sieben imaginären von allen Seiten kommenden Angreifer mit der langen beidhändig geführten Klinge nieder. Immer und immer wieder. Schneller und schneller. Jedes Mal mit unterschiedlichen Techniken, wechselndem Rhythmus und veränderter Intensität.
Nach dem Schwert nahm er den Langstock und absolvierte ebenfalls mehrere Serien. Nach dem Stock folgten zwei Kurzklingen, ähnlich der Hamidashi, und letztlich der Kampf mit blanken Händen und Füßen. Seine Ju-Jitsu-Techniken saßen solide. Takeda war derart tief in seine Bewegungen versunken, dass sein Zustand schon fast einer Meditation gleich kam. Nach zwei Stunden intensiver Betätigung ohne lange Pausen und ohne einen Schluck Wasser sank der Krieger der Yakuza in den Schneidersitz auf den Boden. Er ruhte sich eine Weile aus und entspannte seine Muskulatur mit einer Zazen-Meditation.
Vollkommen gelockert und gleichzeitig die Fäuste voller Energie kehrte er ins Badezimmer zurück, goss etwas heißes Wasser nach, badete nochmals kurz und legte sich zum Schlafen hin. Er war innerhalb von Sekunden weg.
4
Er erwachte von selbst eine Minute vor dem Schrillen der Alarmuhr seines Mobiltelefons. Es war kurz vor 4 Uhr in der Früh. Noch zweieinhalb Stunden bis Sonnenaufgang.
Takeda erhob sich von
Weitere Kostenlose Bücher