Summer Sisters
Arbeit nach Hause kam - meistens Punkrock oder Bach-Choräle. Aber das hatte sie schon lange nicht mehr gemacht und heute hatte sie wohl auch keine Lust darauf.
»Was wolltest du denn fragen?«
Das durchs Küchenfenster fallende Sonnenlicht ließ um Dias Kopf einen Strahlenkranz schimmern und Polly musste die Augen zusammenkneifen.
»Also, ich war doch neulich mit Onkel Hoppy essen, und da hat er gesagt...« Sie beendete den Satz nicht.
Dia schüttelte wieder den Kopf. »Und? Was hat er denn gesagt?«
»Er hat über meine... Großmutter gesprochen.«
»Welche Großmutter?«
»Na, die Mutter von meinem Vater.«
»Ach ja?«
»Ja, und er hat gesagt, sie wäre sehr schön gewesen und … Hast du sie mal kennengelernt?«
»Nein. Ich hab sie nie gesehen.«
Dias Gesicht zeigte den abweisenden Ausdruck, den es immer hatte, wenn Polly versuchte, über ihren Vater zu sprechen. Polly konnte sich noch an die Zeit erinnern, als Dia gern von ihm erzählt hatte, zum Beispiel dass er ein halber Rumäne wäre. Damals hatte sie gescherzt, dass Polly wahrscheinlich mit Graf Dracula verwandt wäre. Und dass ihr Vater ein guter Tennisspieler und ein schlechter Tänzer gewesen wäre und gern die Sex Pistols gehört hätte, obwohl er eigentlich eher konservativ gewesen sei. Polly hatte sich zusammengereimt, dass sie ihre Existenz wohl der Tatsache verdankte, dass ihr Vater zumindest eine Weile gern die Sex Pistols gehört hatte.
»Aber weißt du irgendwas über sie? Wusstest du, dass sie … also, Onkel Hoppy hat gesagt...«
»Ach Polly, ich weiß gar nichts über sie.« Dia stand auf und ging wieder zum Kühlschrank. »Ich hab sie nie kennengelernt. Es wäre mir lieber, Hoppy würde dir nicht solche Sachen erzählen.«
Polly wollte das Thema aber noch nicht fallen lassen. »Hast du mal ein Foto von ihr gesehen? Hat mein Vater nie von ihr gesprochen?«
»Nein. Nein.« Dia wandte sich ab.
»Aber er muss doch was gesagt haben! Du willst dich bloß nicht daran erinnern.«
Dia drehte sich wieder um. »Polly, da gibt es nichts zu erinnern! Okay? Außerdem möchte ich nicht, dass du Onkel Hoppy weiter besuchst. Wenn er das nächste Mal anruft, dann sagst du, du hast keine Zeit. Er ist ein lieber alter Mann, aber er weiß nicht mehr, was er sagt.«
Amas Knöchel waren völlig ungeeignet zum Wandern.
Jedenfalls redete sie sich das ein, als sie beunruhigt zusah, wie der Rucksack der zweitlangsamsten Teilnehmerin der Wanderung zwischen den Bäumen verschwand. Alles an Ama war ungeeignet zum Wandern. Sie war zwar groß, aber dünn und zart gebaut. Sie hatte keine Muskeln wie andere Leute. Ihre Glieder schmerzten, sie bekam schnell Blasen an den Füßen und ihre Haare widerstanden der Schwerkraft.
Was, wenn sie jetzt den Anschluss verlor und sich verirrte?
Sie versuchte, schneller zu gehen, aber die Rucksackriemen schnitten schmerzhaft in ihre Schultern und jeder Stein und jede Wurzel ließen sie straucheln.
Was war denn bloß so toll am Wandern? Warum fanden die Leute das so gut? War es wirklich mehr, als einfach nur in der Gegend rumzulaufen? Irgendetwas musste doch dran sein, sonst würden es nicht so viele Menschen mit so viel Hingabe und so viel Aufwand betreiben.
Amas Eltern waren nie mit ihr gewandert. Wahrscheinlich waren sie überhaupt noch nie gewandert. Ama war sich ziemlich
sicher, dass die Menschen in Ghana, echte Ghanaer, gar nicht wanderten. Sie erinnerte sich, dass die Menschen in ihrem Heimatort Kumasi viel zu Fuß gehen mussten, auch durch unwegsames Gelände. Aber sie hatten immer ein Ziel vor Augen, wollten irgendwo hinkommen. Sie nannten das reisen . Hier in Amerika mit den vielen Autos und Bussen und U-Bahnen wurde das Gehen anscheinend wieder zu etwas ganz Besonderem. Wandern war gehen ohne Zweck. Ohne Zweck und ohne Ziel und ohne Grund. Und noch dazu in hässlichen, unbequemen Schuhen.
War sie jetzt ganz allein hier?
Sie musste schneller gehen, um die Gruppe wieder einzuholen. Und wenn sie sich ein Bein brach? Würde überhaupt jemandem auffallen, dass sie fehlte? Wahrscheinlich würden es nur die Bären bemerken. Oder die Wölfe. Gab es hier auch Wölfe?
Ama betrachtete misstrauisch den tückischen Boden, der sie alle fünf Schritte zum Stolpern brachte. Sie war die Lahmste der ganzen Gruppe.
Und wenn sie vom Weg abkam?
Wenn sie jetzt schon in die falsche Richtung ging?
Ihre Angst wuchs. Würde sie genug zu essen finden, um nicht zu verhungern? Sie hatte doch keine Ahnung, was giftig war
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